Die toten Frauen von Juárez
Mir ist gleich, was er den Leuten erzählt; wir wissen beide, dass diese Männer, diese
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… böse Männer sind. Sie sind kein böser Mann, Kelly; eine Frau wie Paloma würde nie einen bösen Mann lieben.«
»Lassen Sie mich in Ruhe.« Kelly schubste Sevilla. Der Polizist strauchelte, die Zigarette fiel zu Boden. Kelly taumelte rückwärts und stolperte über die eigenen Füße. Er stürzte auf den Hintern. Als er aufblickte, hatte Sevilla die Hand an der Waffe; sein Gesicht war knallrot.
»Seien Sie nicht
dumm,
Kelly! Ich will sie auch finden. Glauben Sie mir etwa nicht? Wo sie so viel Gutes getan hat? Sie haben keine Ahnung, wie viele Leute in ihrer Schuld stehen, Kelly. Das werden Sie nie erfahren.«
»Machen Sie, dass Sie hier rauskommen«, sagte Kelly. Seine Augen brannten, er blinzelte Tränen weg. »Machen Sie … machen Sie einfach nur, dass Sie hier rauskommen, und zwar sofort.«
»Wenn ich jetzt gehe, bekommen Sie keine Hilfe, Kelly«, sagte Sevilla.
»Ich will Ihre Hilfe nicht. Ich will, dass Sie gehen.«
Sevilla seufzte. Die Farbe wich aus seinem Gesicht, er nahm die Hand von der Pistole. Mit der Schuhspitze trat er die heruntergefallene Zigarette auf der Vinylfliese aus. An der Tür angekommen, blieb er noch einmal stehen, als wollte er etwas Abschließendes sagen, doch Kelly sah ihn nicht an, und so ging Sevilla schließlich wortlos. Kelly verbarg das Gesicht in seinen Händen, und alle Worte, Bilder, Ahnungen, Ängste und Hoffnungen wirbelten hinter seinen Lidern durcheinander, bis sie in Form weiterer Tränen herauskamen.
Da verspürte er sie wieder: Scham, warm, heiß wie Blut. Und er roch das Blut; da erst merkte Kelly, dass er sich die Handfläche aufgeschnitten hatte.
SECHS
Estéban kam an diesem Morgen nicht wieder. Kelly wartete bis zum frühen Nachmittag und beobachtete, wie die Schatten mit der Sonne wanderten, dann hielt er es nicht mehr aus. Er verließ das Apartment und ging zur Bushaltestelle. Als er den rosa Telefonmast passierte, wandte er den Blick ab, doch sein Verstand gaukelte ihm das Bild vor:
Justicia para Paloma.
Es dauerte Stunden, bis er die altbekannte Straße, das windschiefe Gebäude und das Büro mit der rosa Tür erreichte – jedenfalls kam es Kelly so vor. Jeder Halt, jede Kurve, jede Verzögerung des Busses bereitete ihm Höllenqualen. Alle bewegten sich zu langsam. Die Passagiere in dem Bus redeten zu laut. Die Sonne schien zu grell, ihm war viel zu heiß auf seinem Plastiksitz.
Kelly fühlte sich befreit, als er auf den Bürgersteig hinaustrat. Er schritt rasch voran, rannte schließlich sogar, doch um seine Ausdauer war es geschehen, und so ging ihm auf halbem Weg die Puste aus. Dennoch hastete er die Treppe in den ersten Stock hinauf und nahm zwei Stufen auf einmal. Im letzten Moment bekam er Angst, das Büro könnte geschlossen sein, doch die Tür stand offen, und Kelly hörte eine Schreibmaschine im Inneren.
Er rechnete mit Ella, aber es war eine andere Frau da, die er nicht kannte. Sie war älter, wie die meisten Mujeres Sin Voces. Als Kelly eintrat, zog sie ein mürrisches Gesicht, als würde er übel riechen.
»Pardon«, sagte Kelly. Hätte er eine Mütze getragen, hätte er sie abgenommen. »
Estoy buscando
Ella.
Mi nombre es
Kelly.«
»Ella Arellano?«, fragte die Frau.
»Si.«
»Señorita Arellano no está aquí.«
Kelly zögerte. Die Flugblätter in dem Büro zogen mit ihren Forderungen nach
justicia, justicia, justicia
wie immer seine Blicke auf sich, doch die Gesichter wirkten anders, weil er sie jetzt erstmals richtig sah. Er bliebunmittelbar an der Tür stehen; er wagte nicht, den Raum zu betreten, wo er von all den Gesichtern umgeben wäre.
»
Señor?
Ich sagte, sie ist nicht hier.«
Er konnte die Flugblätter nicht länger anschauen, aber sie würden
ihn
weiterhin anschauen. Kelly richtete den Blick mühsam wieder auf die Frau. »Ja. Wo … ähem, wo ist sie? Es geht um Paloma.«
Die Frau bekreuzigte sich.
»Estamos esperando noticias.«
»Ich weiß«, sagte Kelly. »Ich war … eine Weile weg. Auch ich möchte etwas Neues erfahren. Können Sie mir sagen, wo ich Ella finde? Sie haben oft zusammen hier gearbeitet.
Por favor?
«
Die Frau schwieg; Kelly spürte Unentschlossenheit, verbunden mit Angst. Ciudad Juárez war eine Stadt der Angst, und Kelly war weiß und ein Fremder, einer von der Sorte, vor der man sich am meisten hüten musste.
»Por favor?«,
wiederholte Kelly seine Bitte.
Kelly
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