Die toten Frauen von Juárez
mal, du musst mich anrufen, klar? Ich weiß nicht, was für Spielchen ihr da treibt, aber wenn du und Paloma beschlossen habt, zusammen durchzubrennen … das ist nicht richtig. Alle machen sich mittlerweile Sorgen, okay? Wenn du das abhörst, sag Paloma, dass sie mich anrufen soll.
Und macht keine Dummheiten, zum Beispiel heiraten, okay? Ruf einfach an. Okay, ruf mich jederzeit an. Okay.
VIER
Chinaloa
sollte einem angeblich den Schmerz nehmen, doch das war eine Mogelpackung, denn der Schmerz verschwand gar nicht, vielmehr wurde er lediglich gebändigt, an einem geheimen Ort verwahrt, und wenn die Pfeife oder die Nadel nicht mehr zum Einsatz kamen, gab einem
chinaloa
alles zurück, weil
chinaloa
ein Miststück war, das es nicht ertragen konnte, wenn man ihm den Laufpass gab.
Kelly hatte Schmerzen hinter den Augen bis tief in den Schädel. Sein Magen glich einem Knoten, und er würgte immer wieder, obwohl nichts mehr darin war außer etwas Klarem, Saurem, Ekligem. Seine Schultern taten weh, seine Knie taten weh, was auch immer anschwellen oder ausgerenkt werden oder ihn wie mit Glasscherben stechen konnte, erwachte zum Leben und peinigte ihn.
Selbst die Gerüche schienen unerträglich. Kelly verabscheute seinen Körpergeruch. Er duschte sechsmal hintereinander und schrubbte sich ab, bis er sich die Haut aufschürfte, aber der Fäulnisgestank blieb hartnäckig. Es war der Stoff, der aus seinem Blut durch die Haut hindurch ausdünstete und die Luft verpestete, die Kelly atmete. Er konnte sich die Zähne nicht oft genug putzen.
Am schlimmsten fand er, dass er nicht imstande war, klar zu denken. Er stellte sich nicht die Frage nach dem
Warum,
und er erinnerte sich sowieso nicht mehr daran. Glühende Schrauben steckten in seinem Schädel; er konnte nicht sprechen, nicht träumen, sich nicht einmal bewegen. Wenn er jetzt schlief, dann zur Erleichterung, denn nur so hielt er den Entzug einigermaßen auf Distanz. Er starb.
Nein, er starb nicht. Sterben wäre leichter gewesen als die Entgiftung. Das wusste er bereits, denn er hatte dieser Hölle schon mehr als einen Besuch abgestattet und sich jedes Mal geschworen, dass er nie wieder dorthin zurückkehren würde, doch er war zurückgekehrt, und der Zustand, in dem er sich jetzt befand, würde erst dann zu Ende gehen, wenn es verdammt noch mal so weit war, und keine Minute früher. Kellywünschte sich, er würde sterben; daran immerhin konnte er sich festklammern.
Schritte auf dem Treppenabsatz vor seinem Apartment hallten wie Donner. Wenn die Sirene der
maquiladora
jenseits der Straße zur Arbeit rief, platzte Kellys Schädel. Ihm graute davor, dass jemand an die Tür klopfen könnte, denn das hätte ihn zerrissen und er hätte schreien müssen. Ein Schrei wäre tödlich für ihn gewesen.
Niemand klopfte. Nicht einmal das Telefon läutete mehr. Als Kelly endlich wieder Durst verspürte, wusste er, dass er überleben würde. Er trank ein Glas Wasser nach dem anderen, bis sein Bauch ganz aufgebläht aussah. Er pisste wie ein Stausee nach einem Dammdurchbruch. Die Schmerzen klangen ab. Er zog sich etwas an und ging sogar einmal auf den Balkon hinaus, wo er sich neben den Sandsack setzte.
Schließlich konnte er essen, musste essen, holte sich aber lediglich Reis und Maisfladen im Laden und hoffte, dass er sie bei sich behalten könnte. Er aß und übergab sich erneut, aber beim zweiten Versuch blieb das Essen drin und beim dritten ebenfalls. Einmal aß er eine Schale Reis, weinte und hielt die Schale dabei so fest zwischen den Händen, dass die Finger ganz weiß aussahen.
Er rasierte sich und hinterließ dabei blutige Schnitte, weil er sich nicht im Spiegel ansehen wollte. Er hatte abgenommen, aber nicht auf eine gesunde Art und Weise.
Das Apartment war ein Saustall. Nichts hatte er aufgehoben, nichts weggeräumt, daher war der Boden übersät mit Verpackungen und leeren Tellern, und wo immer man eine Flasche abstellen konnte, stand auch eine. Als er das Fenster öffnete, zog wenigstens der Gestank ab, doch das Chaos blieb.
Er hörte sich die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter nochmals an. Einmal musste er eine Pause machen und weinen, die Hände vor das Gesicht geschlagen. Er weinte, weil er sich schämte, und er schämte sich, weil er weinte. Es dauerte eine Stunde, bis er sich wieder gefangen hatte.
Estéban ging ans Telefon. Noch nicht einmal Mittag, aber er war trotzdemwach. »Ich bin es«, sagte Kelly zu ihm. »Ich will mit Paloma sprechen.«
»Paloma? He,
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