Die toten Frauen von Juárez
musste einen Bus nehmen, der in das Grenzgebiet zwischen Ciudad Juárez und der sonnengebleichten Wildnis jenseits davon fuhr. Am Ende der Straßenlaternen und Asphaltstraßen begannen die
colonias.
In den Staaten würden hier die Vororte anfangen – endlose, identische Parzellen mit perfektem grünem Rasen, einem Netz von miteinander verbundenen Straßen mit thematisch sortierten Namen und einem stets wachsamen Grundbesitzerverband –, aber hier wimmelte es von Hütten aus Abfallholz und Aluminium-Wellblech.
Wege entstanden nach dem Zufallsprinzip, manchmal breit genug für die wenigen Autos, manchmal so schmal, dass kaum zwei Passanten nebeneinander gehen konnten. Maschendraht, Teile alter Schränke, Hohlblocksteine und entsorgte Transportpaletten waren die vorherrschenden Baustoffe. Ein Loch in der Wand diente als Fenster. Wenn sich der Wind drehte, wurde der Kloakengestank unerträglich.
Hier gab es nichts als Dreck, Sand und einige wenige verdorrte Bäume. Und Menschen.
Die einzigen stabilen Bauwerke waren die Bushaltestellen an der unebenenSchotterstraße. Die Menschen der
colonias
wurden Tag und Nacht im ewigen Schichtwechsel der
maquiladoras
von den Bussen verschlungen und wieder ausgespien. Ein Arbeiter aus einer
colonia
konnte gut und gerne drei Stunden zur Arbeit fahren, bevor die Sonne aufging, und erst nach Sonnenuntergang wieder zu Hause sein. Kelly fuhr in einem Bus voller Frauen in Uniformen, auf denen ihre gestickten Namen und die ihrer
maquiladora
standen, aus der Stadt hinaus. Keine wollte ihn anschauen, und er respektierte das, indem er zum Fenster hinaussah, während Juárez in der Ferne verschwand.
Er stieg aus und stand blinzelnd in der grellen Nachmittagssonne. Einige Frauen stiegen mit ihm aus, andere stiegen ein. Um ihn herum verstummten die Unterhaltungen. Kelly war ein Fremder: weiß, männlich, mit Geld in der Tasche. Die einzigen Weißen, die den
colonias
je Besuche abstatteten, waren gemeinnützige Helfer oder Halsabschneider – und Kelly trug keine Bibel bei sich. Der Bus hüllte ihn in Staub und Dieselabgase, und erst als er allein war, setzte er sich in Richtung der weitläufigen
colonia
in Bewegung.
Nicht alle
colonias
waren wie diese. Manche hatten durchaus Ähnlichkeit mit richtigen Stadtvierteln: Die Arbeiter, die dort wohnten, bauten solide Häuser und schafften es sogar, öffentliche Dienstleistungen wie fließendes Wasser und Abwasserentsorgung zu bekommen. In zwanzig Jahren würden sie möglicherweise von der Stadt absorbiert und zu armen, aber ansehnlichen Teilen des Ganzen werden. Ellas
colonia
gehörte nicht dazu.
Die Anwohner hier stellten keine Straßenschilder auf, aber die selbstgezimmerten Bauwerke sahen individuell genug aus, sodass ein Fremder sich an Besonderheiten zu orientieren vermochte, sofern er imstande war, sie sich einzuprägen. Die Häuser waren mitten in der Wüste aus Abfällen errichtet worden, rostige Nägel und Draht hielten sie zusammen. Kelly suchte nach einer grünen Plastikmülltonne, die aufgeschnitten und auseinandergeklappt als Teil einer Wand Verwendung gefunden hatte. Wenn er sie entdecke, könne er sich daran orientieren, hatte man ihm gesagt.
Die
colonia
stellte kein Labyrinth dar, denn Labyrinthe wurden mit einemZiel vor Augen konstruiert. Eine Ratte konnte lernen, ein Labyrinth zu meistern, hätte sich jedoch in einer
colonia
wie dieser verirrt, wo Not die einzige Konstante war und jeder erbittert um Raum kämpfte. Die Häuser waren flach, unregelmäßig geformt und in ungünstigen Winkeln zueinander errichtet. Kelly hörte Musik aus Radios und sah einen batteriebetriebenen Schwarz-Weiß-Fernseher in der dunklen Höhle eines Hauses. Er prägte sich Orientierungspunkte ein: ein Zaun, den ein rotes Band krönte, ein ingwerfarbener Hund mit einem schwarzen Fleck im Gesicht, das verbeulte Wrack eines alten Buick.
Einige behelfsmäßige Stromkabel hingen gefährlich an Pfosten oder einfachen, in den Boden gerammten Brettern. Orangefarbene Verlängerungskabel nahmen den Platz richtiger Stromkabel ein, und manchmal gab es nicht einmal das; an einigen Stellen war der Draht ohne jegliche Isolierung und wartete nur darauf, dass ein Unachtsamer sich daran festhielt und einen tödlichen Stromschlag erhielt. Ellas
colonia
war nicht an die öffentliche Versorgung angeschlossen, daher hatte ein geschäftstüchtiger Anwohner irgendwo das Hauptkabel angezapft. Einige der größeren Hütten hatten sogar Außenbeleuchtung, doch es waren nur
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