Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
Vom Netzwerk:
hier passiert?«, fragte er wieder.
    »Gehen Sie einfach.«
    »Ich kann nicht.«
    »Ich will Sie hier nicht haben!«, schrie Ella ihn an. Sie nahm die Hand vom Gesicht; Kelly sah abermals das zugeschwollene Auge und den Bluterguss unter der Haut, der ihr Gesicht von der Wange bis zur Stirn verunstaltete. Auch am Mundwinkel zeigte sich eine dunkle, ungesunde Blutung.
    »Haben Sie sie gesehen?«, fragte Kelly.
    »Raus!«
    »Haben Sie sie gesehen?«
    Ella stürzte sich mit ausgestreckten Händen auf ihn. Kelly ließ sich durch die Tür mit dem Vorhang ins vordere Zimmer schubsen. Mit der Ferse stieß er gegen das Bein eines Stuhls und stolperte. Ella weinte, aber nur mit dem nicht geschwollenen Auge. »Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?«
    Ihr lief die Nase; Ella wischte sie mit dem Handrücken ab. Sie zitterte beim Atmen. Wieder wollte Kelly sie berühren, wusste jedoch, dass er es besser sein ließ. Ella wandte ihm den Rücken zu. Als ihre Knie nachgaben, sank sie langsam, wie abgestorbenes Laub, zu Boden und blieb schluchzend liegen.
    »Haben Sie gesehen, wie die sie mitgenommen haben?«, flüsterte Kelly. Ella antwortete nicht. Sie erstickte fast an ihrem Schluchzen und kniete in ihrem zerknitterten Kleid zusammengekauert am Boden. Wie ein kleines Kind wippte sie hin und her und schlang dabei die Arme um sich.
    Kelly nahm sich einen Stuhl und setzte sich. Er spürte sein Gewicht, als hätte sich alles in seinem Inneren in Altmetall verwandelt, das ihn unerbittlich zum Mittelpunkt der Erde zog. Ellas Hütte war die ganze Zeit eng gewesen, doch jetzt schienen die Wände Kelly zu bedrängen. Das Licht gelangte nur unzureichend durch das Fenster, und der Raum reichte kaum aus, um zu atmen. Er stellte sich vor, er wäre Ella und müsste hier leben, dabei kam ihm immer wieder das Bild einer Gefängniszelle in den Sinn. Etwas tropfte auf seine Wange. Kelly wischte es weg und sah die Nässe an den Fingern.
    Nach langer Zeit versiegten Ellas Tränen. Ihr Atem ging ruhiger und regelmäßiger, bis sie schließlich beide still in dem heißen, kleinen Zimmer saßen. Kelly brachte es nicht fertig, die Frage noch einmal zu stellen. Es kam ihm vor, als schwiegen sie sich eine halbe Ewigkeit lang an.
    »Ich konnte nichts tun«, sagte Ella schließlich, und Kellys Magen verkrampfte sich.
    »Dónde sucedió?«,
fragte Kelly.
    Ella fuhr fort, ohne Kelly dabei anzusehen. Stattdessen blickte sie, die Arme noch fest um sich geschlungen, in die Ecke. Man merkte ihr die Nachwehen des Schocks an, als sie fortfuhr; ihre Stimme stockte und klang hohl. »In der Kirche. Mit den Müttern. Paloma bat mich, sie zu begleiten. Ich wusste nicht, warum. Ich glaube, sie wusste es. Sie wollte, dass ich es sehe. Glauben Sie, dass sie es wusste?«
    »Ich weiß nicht«, antwortete Kelly. Er schmeckte etwas Bitteres.
    »Als die Messe zu Ende war, kamen sie. Einer jagte die Mütter mit einem Baseballschläger davon. Paloma wehrte sich. Ich versuchte es auch. Sie haben mich geschlagen.«
    Kelly wollte eine Frage stellen, bewegte die Lippen jedoch zuerst nur stumm. Dann brachte er den Satz heraus. »Wer waren sie?«
    »Männer. Ich kannte sie nicht. Sie hatten einen Lastwagen. Einen neuen schwarzen Pick-up.«
    Ella verbarg das Gesicht in den Händen und weinte wieder. Kelly saß starr auf dem Stuhl und stellte sich die Straße vor, die Kirche, die Mütter der Vermissten – das alles hatte er nie gesehen, weil Paloma es nicht wollte, es sollte für sie allein sein, nichts Gemeinsames – und den Augenblick, als die Männer kamen. In seiner Vorstellung hatten die Männer leere Gesichter, die dennoch wütend wirkten.
    »Haben Sie die Polizei gerufen?«, fragte Kelly, doch Ella antwortete nicht. »Haben Sie die Polizei um Hilfe gebeten?«
    Er musste warten, bis die Tränen wieder versiegten.
    »Haben Sie sie gerufen?«
    »Was würde das nützen? Sie ist tot.«
    Kelly wollte die Frage nicht stellen; die Worte kamen ihm ungewollt über die Lippen. »Haben Sie gesehen, wie sie starb?«
    »Nein. Aber sie ist tot.«
     
    Sie hatten einander nichts mehr zu sagen, und als Kelly ging, verabschiedeten sie sich nicht einmal. Ella schloss die Tür hinter Kelly. Er wusste, er würde sie nie wiedersehen. Paloma war das Bindeglied zwischen ihnen gewesen, und jetzt war Paloma fort.
    Kelly lief ziellos durch die
colonia.
Zuvor war er auf der Suche gewesen, doch jetzt beschäftigten ihn seine eigenen Gedanken, sodass die Häuser eines nach dem anderen an ihm vorbeitrieben, ohne

Weitere Kostenlose Bücher