Die toten Frauen von Juárez
dass er sie wirklich sah. Hin und wieder erblickte er das Feld mit den rosa Kreuzen. Jedes Mal rückte es ein Stück näher; es zog ihn unbewusst an. Schließlich befand er sich jenseits der schmalen Freiräume zwischen den Hütten, aber noch diesseits der Markierungen, weder hier noch dort.
Fotografien oder welke Blumensträuße zierten manche Kreuze. Andere trugen Namen, entweder aufgemalt oder mit Klebebuchstaben geschrieben. Die meisten waren völlig schmucklos. Vielleicht galten sie jemand Bestimmtem, vielleicht waren sie nur Mahnmale:
justicia, justicia, justicia.
Kelly stand auf felsigem Boden, nur hier und da sah man vereinzeltes zähes Wüstengras, das überall wachsen und gedeihen konnte. Aber niemand ließ zu, dass es die Kreuze überwucherte. Kelly ging, ohne zu überlegen, einen Schritt weiter, dann noch einen, und so schlenderte er zwischen den Kreuzen umher wie eben noch zwischen den Häusern der
colonia,
ohne Zweck oder Ziel.
Justicia para Sangrario.
Justicia para Chita.
Justicia para Miguela.
Justicia para Noelia.
Kelly stand vor einem unbeschrifteten Kreuz.
»Justicia para Paloma«,
sagte er laut. Er sank auf die Knie und betete zum ersten Mal seit fünf Jahren. Es war ein Gebet ohne Worte. Stattdessen bot er Gott alles dar, was ihn innerlich aufwühlte – seine Wut, seine Angst, seinen Kummer und seine Reue –, und besiegelte es mit einem
Amen.
Am Himmel brannte die Sonne, ein böses Auge. Kelly schwitzte und weinte, die Flüssigkeiten fielen auf die trockene Erde.
»Justicia para Paloma.«
Falls Gott zuhörte, antwortete er nicht. Nicht einmal ein Lufthauch regte sich über dem Feld der Kreuze. Kelly wischte sich das Gesicht mit den Handflächen ab. Als er sich wieder aufrichtete, klebte schieferfarbenerStaub an ihm. Er wünschte sich ein Taschenmesser oder einen Schraubenzieher, damit er Palomas Namen in das unbeschriftete Kreuz ritzen könnte.
Sie ist tot,
hatte Ella gesagt.
Sie ist tot. Tot.
»Sie ist tot«, versuchte es Kelly laut, doch die Worte kamen ihm nicht richtig vor. Er wollte sich die Hände abklopfen, aber der Staub war wie Lehm und blieb in Klumpen haften. Also ballte er die Fäuste und zermalmte den Dreck.
Jetzt sahen die Kreuze ihn an. Er schritt hastig aus, um ihnen zu entkommen, quer über das Feld und hin zu dem hellen Streifen ausgetretenen Sands, der die Straße zurück zur Stadt darstellte. Einmal streifte er eines der Kreuze. Ein von der Sonne ausgebleichtes Stück Klebeband löste sich, eine verwaschene Fotografie fiel mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Kelly kniete nieder, um sie aufzuheben, doch plötzlich wollte er sie nicht mehr anfassen, denn er
wusste,
ganz gleich, um wessen Bild es sich handelte, er würde Palomas Gesicht sehen. Er ließ sie liegen.
Er stand im Schatten bei einer überdachten Bank, abseits der Mädchen und jungen Frauen in ihren
maquiladora -Uniformen
. Kelly sah keiner von ihnen in die Augen. Alle beobachteten ihn, tuschelten über ihn, waren wütend auf ihn, weil er nicht dort gewesen war, als die Männer Paloma holen gekommen waren und die Mütter der Vermissten mit Baseballschlägern vertrieben hatten. Ella Arellano war dort gewesen, aber Kelly nicht; er hatte an der Nadel gehangen und war in
chinaloa
geschwommen, und als Paloma ihn um Hilfe angefleht hatte, hatte er sie nicht gehört.
Das Rauschen des Blutes in seinen Ohren wurde zum Brummen eines Dieselmotors. Kelly bezahlte zu viel Fahrgeld. Er setzte sich nicht, sondern blieb stehen und kam sich vor wie ein Zombie. Die Luft, die zu den offenen Busfenstern hereinwehte, reichte nicht aus, um ihn abzukühlen; bald schon war er in Schweiß gebadet, der nach Scham stank. Alle Frauen rochen es. Selbst der Busfahrer sah ihn voller Ekel an.
Er stieg schon vor seiner Haltestelle aus und ging zu Fuß durch die Straßen. Er trank eine Limonade, die er nicht schmeckte, und aß einenTaco, der ihm wie Blei im Magen lag. Überall gafften die Leute ihn an, weil sie es
wussten.
Kelly wusste, dass es Wahnsinn war, aber in Ciudad Juárez regierte der Wahnsinn. Drogendealer lieferten sich auf offener Straße Feuergefechte, und das war Wahnsinn. Frauen starben, und das war Wahnsinn. Paloma hatte den Tod gefunden, und das war Wahnsinn. Kelly lebte noch, und auch das war Wahnsinn.
Es war Wahnsinn.
SIEBEN
»Habe ich Ihnen je von meiner Tochter erzählt?«, fragte Sevilla.
Kelly schlug die Augen auf. Er lag weitgehend im Schatten, nur die Beine ragten in die Sonne. Er lehnte in einer schmalen
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