Die toten Frauen von Juárez
Gasse an einer nackten Betonwand. Sechs Schritte entfernt brauste ein Bus vorbei und hinterließ Staub und Dieselabgase. In Kellys Kopf pochte es. Automatisch betrachtete er seine Arme. Die alten Narben waren noch da, aber keine neuen.
Als er weiterging, kippte eine leere Tequilaflasche um. Jetzt erkannte Kelly den Geschmack im Mund und die garstigen Schmerzen hinter seinen Augen, die bis ins Gehirn stachen. Er erinnerte sich nicht daran, dass er hierhergekommen war und sich betrunken hatte, aber es war auch eine ziemlich große Flasche.
Es fiel Kelly nicht allzu schwer, sich aufzurichten; er stützte sich an der Wand ab. Er strich das Hemd glatt und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Sein Haar war lang geworden und fühlte sich fettig und staubig an. Er stellte fest, in welcher Straße er sich befand. Zu Fuß wäre er in wenigen Minuten daheim. Die Brieftasche hatte er noch einstecken, die Armbanduhr war nach wie vor am Handgelenk. Er konnte nicht über Nacht draußen gewesen sein, dachte Kelly, obwohl es ihm vorkam, als wäre schon wieder Morgen.
Als er seinen Häuserblock erreichte, nahm er einen Umweg in Kauf, damit er nicht an dem rosa Telefonmast mit dem Dickicht von Flugblättern vorbeimusste. Er wusste, er würde Palomas Gesicht nicht zwischen den anderen sehen, noch nicht, aber er stellte sich vor, dass es da wäre, und das war schlimm genug. Wenn er dort vorbeiging, erblickte er vielleicht ein Mädchen, das ihr ähnlich genug sah, um seiner Phantasie einen Streich zu spielen, und dann wäre Paloma tatsächlich da und er gezwungen, sich schreckliche Geschehnisse auszumalen.
Er ging die Treppe zu seinem Apartment hinauf und trat ein. Es war heiß. Er öffnete die Fenster. Die Sirene der
maquiladora
gegenüber ertönte.Kelly sah, wie die Sonne auf die schmucklosen Betonklötze der Fabrik fiel, und wusste, es war tatsächlich Morgen. Er hatte die ganze Nacht in einer Gasse verbracht und Tequila direkt aus der Flasche in sich hineingeschüttet, während die Stadt und die
turistas
und die Stunden blind vorbeimarschiert waren. Kelly verspürte Scham.
Eine Erinnerung an Sevilla plagte ihn unterschwellig, während Kelly sich ein Frühstück zubereitete. Kelly erinnerte sich an einen Traum, nicht an den Mann selbst. Sie saßen beide in der Gasse und reichten einander den billigsten Fusel, den sie sich leisten konnten, wie
vagos,
obwohl Sevilla einen Anzug trug. Worüber sie gesprochen hatten, daran konnte sich Kelly nicht erinnern, aber Sevilla, dessen Brieftasche und eine Fotografie waren ihm im Gedächtnis geblieben.
»Habe ich Ihnen je von meiner Tochter erzählt?«
Kelly aß, schmeckte jedoch nichts von dem, was er in sich hineinschaufelte. So war es immer. Er kaute, schluckte, verspürte das Völlegefühl, das ihm sagte, dass er aufhören solle, aber es geschah alles rein mechanisch. Früher hatte er gern gut gegessen, besonders mit Paloma oder wenn er auf sein Gewicht geachtet hatte und es sich nicht hatte leisten können, auch nur ein Gramm überflüssiges Fett zu sich zu nehmen. Teller und Gabel verschwanden im Spülbecken. Er spülte sie, trocknete sie ab und stellte sie weg.
Er ertrug es nicht, auf der Couch zu sitzen, nicht einmal bei eingeschaltetem Fernseher. Später, als die Abendsonne erst gelb und dann rot wurde, zog er Sporthosen und ein T-Shirt an und umwickelte die Hände. Für ihn kam das Umwickeln einer Meditation gleich, da er feststellte, dass er sich dabei von allem lösen konnte. Die Binden waren sein Rosenkranz – Daumen, Handgelenke, Knöchel, Fingerzwischenräume. Enger und enger, aber nicht zu eng. In seinem Verstand herrschte Leere.
Er schlug auf den schweren Sandsack ein und achtete nicht auf die summenden, stechenden Moskitos, die sein Schweißgeruch anlockte. Bei Einbruch der Nacht erwachte die
maquiladora
zum Leben, präsentierte sich in weißem Lichterschmuck und verwandelte die tagsüber schwarzen Fenster in hell erleuchtete Rechtecke. Kellys Schultern schmerzten – erschlug aus den Armen heraus zu, nicht aus der Hüfte –, seine Lunge fühlte sich gequetscht an. Wohin war er verschwunden, der Kelly aus der
palenque
? Und überhaupt, wo steckte der Kelly, der niemals eine Nadel anrührte, dessen liebster Zeitvertreib außerhalb der Sporthalle es war, dass er mit einem kalten Bier auf der Pritsche eines alten Pick-ups saß?
Eine Antwort kam ihm in den Sinn: Dieser Kelly war so tot wie Paloma.
»Wichser«, stieß Kelly hervor. Er schlug noch einmal auf den
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