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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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Sandsack ein, dann trat er schwer atmend zurück. Die Trance war dahin, ebenso die Meditation des Händewickelns und der anschließenden Stille. Es war unmöglich für ihn, an Paloma zu denken und inneren Frieden zu bewahren, aber jetzt konnte er sich auf nichts anderes mehr besinnen.
    Er legte die Hände auf das Balkongeländer und umklammerte es. Er kniff die Augen zu und versuchte, den Lichtmustern hinter seinen Lidern zu folgen.
    »Habe ich Ihnen je von meiner Tochter erzählt?«
    »Nein«, antwortete Kelly dem Sevilla seiner Träume laut. Als er die Augen aufschlug, war alles noch da: die Stadt, die
maquiladora,
die Lichter und der Himmel, dem sie einen unschönen orangeroten Anstrich verliehen, doch Paloma beherrschte seine Gedanken nicht mehr ganz so sehr. Er weinte nicht. Ein Teil von ihm war stolz darauf, ein anderer wütend; verdiente Paloma seine Tränen nicht? Ella Arellano weinte um Paloma. Sogar Estéban weinte um sie, und der weinte sonst um niemanden.
    Kelly löste die Binden. Im Dunkeln stand er eine Stunde unter der Dusche, ohne einen Gedanken an die Kosten zu verschwenden. Im Geiste schritt er über ein Feld mit rosa Kreuzen, und auf jedem einzelnen stand der Name von jemandem, den er kannte.
    Er überlegte, ob er Estéban anrufen sollte. Estéban würde sicher interessieren, was Ella ihm erzählt hatte. Aber seine Haut war nach dem Duschen noch nass, die Muskeln überanstrengt, und da er endlich den sauren Nachgeschmack alten Tequilas aus dem Mund hatte, wollte er nicht darüber reden. Außerdem war Estéban mit Sicherheit auch überall hin gegangen, wo Kelly gewesen war. Das schien logisch. Es war nicht nötig, dass Kelly Estéban etwas erzählte, das er längst wusste.
    Sevillas Visitenkarte lag neben anderem Krimskrams aus dem Briefkasten und aus Kellys Taschen auf der Küchenanrichte. Kelly wartete eine Weile, bis er wählte, doch dann nahm niemand ab. Er versuchte es noch einmal. Vor dem dritten Versuch besann er sich; er hätte Sevilla sowieso nichts zu sagen gehabt. Doch vielleicht wollte Kelly ja nur etwas über Sevillas Tochter erfahren, falls er überhaupt eine hatte.
    Als er diesmal den Fernseher einschaltete, fand er wenigstens ein bisschen Ablenkung. Aber er sah zu häufig auf die Uhr, daher machte er den Fernseher und sämtliche Lichter vor Mitternacht aus und ging zu Bett.
    Kelly schlief lange nicht ein, da er die Augen nicht schließen konnte. Jedes Mal sah er im Geiste Paloma vor sich, daher musste er den Schlaf herbeizwingen, während er an die Decke starrte. Es war alles vergebens, denn als er schließlich doch eindöste, kam Paloma zu ihm ins Bett, und er drückte sie an sich und weinte leise an ihrem Nacken und versicherte ihr, dass er sie liebte. Und wie immer antwortete sie nicht, dass sie ihn auch liebe.
    »Habe ich Ihnen je von meiner Tochter erzählt?«, fragte Sevilla sie beide. Er stand im Anzug neben dem Bett und rauchte im Dunkeln eine Zigarette.
    Kelly schrie Sevilla an, dass er gefälligst aus der Wohnung verschwinden und ihn mit Paloma allein lassen sollte, doch als sie wieder allein waren, sagte Paloma zu ihm: »Du hättest ihn reden lassen sollen.«
    »Mir egal«, antwortete Kelly. »Mir sind alle egal, nur du nicht.«

ACHT
    Kelly wusste schon, als er das Klopfen hörte, dass es nur Sevilla sein konnte. Er erwachte aus seinem Schlummer, als er die Knöchel auf dem Holz hörte, doch er war sich nicht sicher, ob er tatsächlich wach war oder immer noch träumte. Paloma lag nicht neben ihm, wie in dem Traum. Auch als er die Hände über das Gesicht legte, ließ sich das Licht vom Fenster nicht ausblenden. Sevilla klopfte abermals, diesmal nachdrücklicher, und Kelly hörte seine Stimme. »Kelly? Machen Sie die Tür auf!«
    »Gehen Sie weg«, sagte Kelly so leise, dass es niemand hören konnte. Er quälte sich aus dem Bett, zog die Shorts vom Vortag an und ging zur Tür. Er löste die Kette und drehte den Schlüssel herum.
    Sevilla hatte zwei bewaffnete Polizisten dabei, rechts und links von ihm. Sie trugen Dunkelblau und Schwarz, Schutzwesten und -helme aus Plastik, die ähnlich aussahen wie die der Skateboarder. Visiere schützten ihre Augen. Zwischen ihnen wirkte Sevilla deutlich kleiner und zerknitterter als sonst. Die Tränensäcke unter seinen Augen waren noch ausgeprägter.
    »Kelly«, sagte Sevilla.
    »Was ist denn?«, fauchte Kelly zurück.
    Die bewaffneten Polizisten mit den Körperpanzern gingen an Sevilla vorbei und betraten das Apartment. Einer rempelte

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