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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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ärgerte sich. Bremsen wäre eine Zumutung gewesen. Kelly balancierte das Bier auf dem Lenkrad und gab Gas. »Komm schon, komm schon.«
    Von der Hauptstraße führte eine Nebenstraße ab, sie verlief parallel zu den Gleisen. Kelly sah Kinder mit Fahrrädern, die im Gras auf dem Bahndamm standen und nach dem Zug Ausschau hielten, den er immer noch nicht sah.
    In knapp fünfzig Metern Entfernung tauchte der Zug auf. Kelly berührte die Bremse, überlegte es sich aber anders. Er bog in die Nebenstraße ab. VORFAHRT GEWÄHREN, mahnte ein Verkehrsschild. Mit siebzig Stundenkilometern raste er an den Kindern vorbei; das Signal des Zuges tönte durch die geschlossenen Scheiben, der Motor des Buick heulte auf, Kellys Gedanken rasten.
    Es krachte gleich hinter der Abbiegung. Ein Fahrrad, durch den Aufprall in eine verbogene Skulptur aus Gummi und Metall verwandelt, flog über die Motorhaube. Ein Pedal traf die Windschutzscheibe und zerschmetterte das Glas.
    »Gottverdammt!«
    Kelly hörte die Kinder schreien und die Hupe des Zugs ertönen. Er scherte aus, das Fahrrad fiel herunter. Die Bierdose rutschte zwischen seinen Fingern hindurch, prallte auf das Armaturenbrett und verspritzte Schaum. Der Buick schlitterte, das Lenkrad zuckte unter Kellys Händen wie etwas Lebendiges. Kelly trat mit beiden Füßen und erwischte Bremse und Gas. Der Motor jaulte, die Reifen quietschten. Er kam quer über zwei Fahrspuren zum Stehen und würgte den Motor ab.
    Kelly spürte Nässe im Schritt. Er roch Pisse. Er mühte sich mit der Tür ab und stolperte auf den Asphalt, als er sie endlich aufbekommen hatte. Die Kinder standen auf der Straße. Das verbogene Fahrrad lag dreißig Schritte entfernt. Der Zug raste achtlos vorbei. Kelly richtete den Blick wieder auf die Kinder, die sich zusammenscharten, während ihr Schreien nicht nachließ, und die dennoch nichts verdeckten.
    Er hätte sich nie träumen lassen, dass ein Junge so voller Blut sein könnte. Der Asphalt schien damit bestrichen worden zu sein, dunkelrot, dazwischen fast rosa Stellen. Der Junge war aufgerissen; man sah den Hüftknochen. Die anderen Kinder schienen in seinem Orbit gefangen, zu ängstlich, um näher zu kommen, zu erschrocken, um wegzulaufen.
    Kellys Lungen waren leer, sonst hätte er vielleicht ebenfalls geschrien. Er spürte weder Arme noch Beine. Er verharrte reglos, so schrecklich reglos wie der tote Junge, und brachte es nicht fertig, den Blick abzuwenden. Der Zug ratterte immer noch vorbei, ein Waggon nach dem anderen. Kelly hörte sein Signal langsam verklingen.
    Die Gliedmaßen des Jungen sahen so zerschmettert und verbogen aus wie sein Fahrrad. Eine unnatürlich abgewinkelte Hand zeigte zum Himmel. Sie saß an den Überresten eines Unterarms und eines gebrochenen Ellenbogens. Die kurzen Hosen und das T-Shirt wiesen dunkle Flecken auf, und die Blutlache wurde immer größer. Woher kam nur das viele Blut?
    Kelly bewegte sich, noch bevor er richtig begriffen hatte, dass er dazu überhaupt imstande war. Die Gruppe der Kinder zerstreute sich. Manche rannten, andere weinten, wieder andere sahen Kelly an. Er wandte das Gesicht von ihnen ab. Mit tauben Händen ertastete er die offene Autotür, stieg ein, drehte den Zündschlüssel. Der Motor des Buick setzte einmal aus, ehe er ansprang. Kelly stockte der Herzschlag.
    Das Auto hinterließ eine ölige Gummispur auf der Straße. Kelly fuhr fünfzig Meilen, ohne langsamer zu werden oder anzuhalten, aber nur hundert Meilen, bis er sich wieder etwas zu trinken genehmigte. Dann wandte er sich Richtung Mexiko.

ZWÖLF
    Kelly erwachte weinend. Er zuckte auf der schmalen Matratze zusammen und spürte Schmerzen überall da, wo er sie noch ertragen konnte. Der Rest von ihm war jenseits davon; wenn er jene schmerzenden Stellen bewegte, wurde ihm plötzlich bis ins tiefste Wesen hinein übel, doch wenn er würgte, verschlimmerte das sein Leiden nur noch.
    »Kelly«, sagte Sevilla.
    Eines von Kellys Augen war zugeschwollen. Er sah Sevilla außerhalb der Zelle. Es herrschte eine solche Ruhe und Stille, dass Kelly im ersten Moment nicht wusste, ob er wieder träumte oder ob dies tatsächlich passierte. Die Schmerzen jedenfalls fühlten sich real genug an. Er erinnerte sich an den verstümmelten Leichnam des kleinen Jungen auf der Straße; auch er war real, aber längst vergangen.
    »Helfen Sie mir«, sagte Kelly.
    »Aufmachen«, sagte Sevilla.
    Ein Aufseher trat in Kellys Gesichtsfeld. Er steckte einen Schlüssel ins Schloss und sperrte

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