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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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die Tür auf. Nur mit Hilfe des Aufsehers und Sevillas gelang es Kelly, sich aufzurichten. Etwas Warmes und Nasses strömte an Kellys Bein hinab; er konnte nicht verhindern, dass er sich selbst bepisste.
»Eso es repugnante«,
sagte der Aufseher, ließ aber nicht los.
    Als sie Kelly an den anderen Zellen vorbeiführten, herrschte Stille. Die Männer hinter den Gittern sahen einfach nur zu. Kelly zog den rechten Fuß nach; er konnte ihn nicht richtig bewegen, doch in seiner Qual war ihm gleichgültig, welchen Eindruck er erweckte. Das Ende des Zellentrakts schien dutzende Meilen entfernt zu sein. Als sie die Tür erreichten, sparte der Aufseher sich die Mühe und sagte Kelly nicht, dass er sich an die Wand lehnen sollte; Kelly hätte die Energie für einen Fluchtversuch sowieso nicht aufbringen können.
    Sie passierten die Stahltüren mit ihren schlichten Ziffern und Gucklöchern. Kelly hatte Sevilla einen Arm über die Schultern gelegt. Er packte den Stoff von Sevillas Anzug, doch sein Griff blieb schwach, schrecklichschwach. »Bitte«, sagte Kelly. Er verabscheute den kläglichen Unterton seiner Stimme.
    Kelly hielt den Atem an, als sie Raum 2 erreichten, doch sie gingen daran vorbei. Er betete, dass sie an allen vorübergehen würden, doch Sevilla und der Aufseher blieben vor Raum 4 stehen. Abermals ein Schlüssel in einem Schloss, und dann half Sevilla Kelly in diesen anderen Raum mit einem anderen festgeschraubten Tisch und unbeweglichen Stühlen.
    Der Aufseher schloss sie ein. Sevilla bugsierte Kelly auf einen der Stühle und zupfte Anzug und Krawatte zurecht. Kelly ließ den Kopf in den Nacken sinken und erblickte oben in der Ecke wieder eine Videokamera, dennoch war dieser Raum anders: Eine billige Plastikjalousie verbarg ein Fenster gegenüber vom Tisch. Wäre die Jalousie offen gewesen, hätte Kelly von seinem Platz aus hinaussehen können. Möglicherweise hätte er den Himmel erblickt, oder ein Stückchen Natur. Vielleicht ein wenig echte Sonne.
    Sevilla zog die Jalousie nicht auf. Er setzte sich Kelly gegenüber.
    »Ich werde Sie nicht fragen, wie Sie sich fühlen«, sagte Sevilla.
    »Ich brauche einen Arzt«, antwortete Kelly.
    »Mal sehen, was ich tun kann.«
    »Wann?«
    »Bald.«
    Die Zeit in dem Raum währte ewig, da es nirgendwo eine Uhr gab. In den Kratzern der rissigen Tischplatte klebte etwas, das wie getrocknetes Blut aussah. Wie er sich auch hinsetzte, Kellys ganzer Körper schmerzte. Am liebsten hätte er sich auf den kalten Betonboden gelegt, doch er wollte nicht einschlafen, denn dann hätte er womöglich wieder von dem kleinen Jungen mit dem Fahrrad und der Schar Kinder geträumt, die um ihn herumstanden. Oder, schlimmer noch, von Paloma, wie Sevillas Fotos sie zeigten.
    »Die haben mich gebeten, noch einmal mit Ihnen zu reden«, sagte Sevilla. »Sie müssen mir zuhören.«
    »Ich habe sie nicht ermordet.«
    Sevilla antwortete nicht. Er holte eine Packung Benson & Hedges ausder Tasche, nahm sich eine und ließ das Päckchen auf dem Tisch liegen. Kelly rührte es nicht an. Er sah, wie Sevilla die Zigarette anzündete, inhalierte und zur Decke hin ausatmete. Schreie tönten gedämpft durch die Wände.
    Kellys Kopf pochte. Er schloss die Augen und sah Muster in der Dunkelheit.
    »Habe ich Ihnen je von meiner Tochter erzählt?«, fragte Sevilla.
    Kelly schlug die Augen nicht auf. »Nein.«
    »Ich weiß, dass jeder Vater so denkt, aber sie war eine Schönheit. Das schönste Mädchen in ganz Mexiko. Zu schön für diese Welt. Und meine Enkelin … oh, Sie hätten sie sehen sollen. Etwas so Bezauberndes hätte Ihnen das Herz gebrochen.«
    Neuerliche Schreie. Kelly bildete sich ein, dass er eine Stimme erkannte, doch seine Ohren schmerzten so sehr wie alles andere an ihm. Er legte die Hände auf den Tisch. Das Zimmer drehte sich um ihn, sein Magen zog sich zusammen. Kelly fragte sich, ob seine Trommelfelle Schaden genommen hatten. Ein Boxer mit geplatztem Trommelfell konnte nicht mehr in den Ring steigen; Gleichgewicht war alles.
    »Wir wollen nur die Wahrheit, Kelly«, sagte Sevilla schließlich.
    »Ich habe sie nicht ermordet.«
    »Kelly, sehen Sie mich an.«
    Kelly schlug ein Auge auf und erblickte Sevilla in Rauch eingehüllt. Der Mann sah bedrückt aus und schwitzte. Etwas knallte heftig gegen die Wand hinter Sevilla; die Jalousie erbebte. »Ich habe sie nicht ermordet«, wiederholte Kelly.
    »Paloma hat sich nicht
selbst
ermordet, Kelly. Und die Leute, die hier das Sagen haben … der Mann, den

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