Die toten Frauen von Juárez
die Unterseite der oberen Pritsche mit hinter dem Kopf verschränkten, dünnen Armen. Kelly sah, dass der Mann barfuß war; seine Slipper standen fein säuberlich neben der Zellentür.
»Ich glaube nicht, dass ich es auf das obere Bett schaffe«, sagte Kelly.
»Estoy lastimado.«
»Hier drin wird jeder irgendwann verletzt«, antwortete Gaspar. Er warf Kelly einen Blick aus dem Augenwinkel zu. »Wenn du nicht auf dem Boden schlafen willst, dann kletterst du,
cabrón.
«
Die Hitze stieg Kelly ins Gesicht. Er wollte aufstehen, zupacken, treten, schlagen, doch allein der Gedanke daran laugte ihn bis zur Erschöpfung aus. Er blieb untätig. »Wie auch immer«, sagte er schließlich.
»Wie auch immer«, wiederholte Gaspar. Er machte die Augen zu; Kelly sah, wie sich die Brust des Mannes unter dem Peace-Zeichen in leichtem Schlummer hob und senkte.
Kelly legte sich wieder auf den Beton. Er hörte die Stimmen der Männer, die sich von einer Zelle zur anderen unterhielten, und Metall auf Metall klirren. Trotz der körperlichen Erschöpfung dachte er nicht an Schlaf. Bewusstlosigkeit war nicht dasselbe wie Ruhe. Alles an und in ihm tat weh, und die Schmerzen blieben untrennbar mit den Erinnerungen an Estéban und die Zelle und den Baseballschläger verbunden.
Gaspar erwachte. Er setzte sich wieder auf den Rand der Pritsche und griff nach der Wasserschüssel. Einen Moment schien er zu überlegen, ob er Kelly abermals damit bespritzen sollte, aber dann trank er nur. Den Rest bot er Kelly an.
»Danke«, sagte Kelly. Er schaffte es, einen Arm zu heben, einen Schluck zu trinken und in sich zu behalten.
»Warum zum Teufel bist du hier?«, fragte Gaspar.
Kelly schüttelte den Kopf. »Das willst du nicht wissen.«
»Die sagen, ich habe ein Mädchen vergewaltigt«, sagte Gaspar. »Ich sage, die
puta
hat mein Geld genommen, ich hab mir nur geholt, wofür ich bezahlt habe. Man kann nicht sagen, dass ich sie dazu gezwungen habe.«
»Vermutlich nicht«, antwortete Kelly und legte sich wieder auf den Beton.
Gaspar betrachtete Kelly eine Weile. Sein Gesicht war schmal, die lange Nase an zwei Stellen gebrochen gewesen. Schließlich stand er von der Pritscheauf und streckte Kelly die Hand hin. »Steh vom Boden auf. Du wirst noch krank, wenn du da liegen bleibst.«
Kellys Gelenke standen in Flammen, seine Muskeln loderten hell auf, dennoch schaffte er es mit Gaspars Hilfe auf die Pritsche. Das schlimme Bein konnte er nicht bewegen; Gaspar hob es für ihn hoch. Als sie fertig waren, rollte der drahtige Mann die Matratze der oberen Pritsche aus und kletterte hinauf. Kelly sah seinen Umriss in den Sprungfedern über sich.
Gaspars Stimme tönte herunter. »El Cereso ist kein guter Ort für einen weißen Jungen.«
»Ich weiß«, sagte Kelly.
»Was auch immer die von dir hören wollen, du solltest es sagen.«
Kelly hörte das Poltern und Knirschen von Holz und Knochen. »Ich kann nicht«, sagte er.
»Was, denkst du etwa, du bist ein harter
hombre
? Du bist nicht so hart, wie du glaubst, verlass dich drauf.«
Diesmal nickte Kelly nur. Die Unebenheiten der Matratze bohrten sich wie Messer in sein Fleisch. Er schloss die Augen und wünschte sich einen Schlaf ohne Träume oder Erinnerungen. Das Plappern dutzender Unterhaltungen zur selben Zeit – Gebrüll und Flüstern – wurde zum Prasseln von Regentropfen auf einem Fenstersims.
Irgendwie wusste Kelly, dass es Nacht war, als er wieder zu sich kam. Das Neonlicht schien unverändert, und er sah Gaspars Umrisse in der oberen Pritsche, als hätte sich der Mann keinen Zentimeter bewegt. Der Tonfall der Unterhaltungen draußen klang verändert. Ein Aufseher schlenderte an der verriegelten Tür vorbei, blieb einen Moment stehen, betrachtete Gaspars Schuhe und ging weiter.
Nach der Ruhepause fühlte sich Kelly kräftiger und konnte aus eigener Kraft aufstehen. Er ging auf die Toilette und beachtete das Blut nicht, das den Urin dunkel färbte. Die obere Pritsche quietschte; als Kelly sich umdrehte, sah er, dass Gaspar ihn beobachtete. »Wie sehe ich aus?«, fragte Kelly, brachte aber kein Lächeln zustande.
»Als wärst du schon tot«, entgegnete Gaspar. Zuvor hatte Kelly nurLangeweile in den Augen des Mannes gesehen, doch jetzt erblickte er den feuchten Glanz der Furcht. Auch das kannte Kelly aus dem Ring und von seinem Spiegelbild in frühen Morgenstunden, an die er sich lieber nicht erinnern wollte.
Er verdrängte diese Gedanken. »Habe ich das Essen verpasst?«, fragte
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