Die toten Frauen von Juárez
erzählen Sie mir das alles?«, fragte Sevilla.
Enrique zuckte zusammen. Widerwillig ließ er die Kippe auf den Boden fallen und trat sie zaghaft aus. Er sprach in die leeren Hände. »Captain Garcia sagte, der Amerikaner sei Ihr Freund.«
Sevilla verbesserte ihn nicht. Er war nicht sicher, was Kelly ihm bedeutete. Einmal hatte er Kelly gesagt, dass er ihn respektiere, und das stimmte. Jetzt war Kelly …
»Glauben Sie, das ändert etwas?«, fragte Sevilla. »Alle Polizisten haben Freunde. Wir erzählen einander keine Märchen.«
»Ich erzähle keine Märchen!«, brauste Enrique auf. Er sah herausfordernd hoch, sein Rücken wirkte verkrampft. Sevilla erkannte Wut und Kränkung in den Augen des jungen Polizisten. »Es ist wirklich so gewesen!«
»Ich glaube Ihnen. Beruhigen Sie sich«, sagte Sevilla und hob die Hände. »Aber die Leute werden sich zweifellos wundern, weshalb Sie zu mir gekommen sind, Freund hin oder her. Fragen Sie Garcia, der dürfte Ihnen sagen, dass ich mit
narcos
und Junkies zu tun habe, nicht mit Killern. Warum wenden Sie sich nicht an Señora Quintero? Gehen Sie damit zur
Procuraduría.
Vielleicht verleiht Ihnen sogar jemand einen Orden für Tapferkeit. Aber ich bezweifle es.«
»Das ist Zeitverschwendung.«
Enrique wollte aufstehen. Sevilla hielt ihn mit einer Handbewegung auf. »Ich habe nicht gesagt, dass es Zeitverschwendung ist. Ich will nur wissen, warum Ihnen etwas daran liegt. Warum Sie zu mir gekommen sind.«
Die Anspannung fiel von Enrique ab; er ließ sich auf das zerfetzte Sofa zurücksinken. Mit einer Hand über den Augen atmete er tief durch, und Sevilla dachte, er würde weinen, doch als der junge Polizist die Hand wegnahm, waren seine Augen trocken.
»Warum sind Sie zu mir gekommen?«, fragte Sevilla nochmals.
»Ich dachte … Ich weiß nicht. Ich dachte, Sie würden es verstehen.«
»Das mit Garcia.«
»Alles. Ich bin nicht zur Polizei gegangen, damit ich Geständnisse aus Unschuldigen herausprügeln kann. Und ich glaube auch nicht, dass sie es gewesen sind. Der Amerikaner und Salazar. Ich glaube es nicht.«
Sevilla nickte langsam. »Und Sie glauben, wir beide finden die Wahrheit heraus, die alle anderen nicht finden?«
»Ich weiß nicht. Halten Sie es für möglich?«
Sevilla breitete die Arme aus. »Sie sind nicht der Einzige ohne Antworten.«
»So, wie Garcia über Sie redet, weiß ich, dass er eifersüchtig auf Sie ist. Er sagt, die lassen Sie Ihre Arbeit machen, ohne sich einzumischen. Er sagt, wir könnten viel mehr leisten, wenn uns die hohen Tiere einfach aus dem Weg gehen würden.«
»Und Sie weiterhin Leute foltern lassen?«
Enrique sah auf seine Schuhe. »Ja.«
»Niemand mit einem Gewissen sollte gezwungen sein, mit La Bestia zu arbeiten. Schätzen Sie sich glücklich, dass Sie noch eins haben. Er hätte es Ihnen herausreißen und zerquetschen können. Dann wären Sie nicht zu mir gekommen, höchstens als Handlanger. Als Spion.«
»Ich bin kein Spion.«
»Warum soll ich Ihnen glauben?«
»Ich habe Ihnen schon so viel gesagt, dass es für Ermittlungen gegenGarcia reichen würde. Die Leute sehen weg, aber nur, weil niemand den Mund aufmacht. Ich könnte etwas sagen. Wie Sie wissen, war ich dabei.«
»Denken Sie, irgendjemand würde Ihnen glauben?«
»Das kommt auf einen Versuch an.«
»Allein die Tatsache, dass Sie so etwas versuchen würden, verrät mir, dass Sie entweder ein Narr oder ein Romantiker sind. Weshalb sollte ich mich mit so einem belasten?«
»Sie brauchen Hilfe.«
»Was für Hilfe?«, fragte Sevilla.
»Sie sind draußen. Ich bin drinnen. Sie wollen einen Spion? Das kann ich für Sie übernehmen.«
»Mit welchem Nutzen für Sie? Ruhm und Ehre bringt das nicht ein.«
»Einem Mann den Schädel einzuschlagen, bringt auch weder Ruhm noch Ehre.«
»Gut möglich, dass sich kein Mensch dafür interessiert«, sagte Sevilla. »Sie wissen, wie es heutzutage auf den Straßen von Juárez zugeht. Überall sterben Menschen. Nicht einmal die Polizei ist noch sicher. Es ist nichts Neues, dass Frauen den Tod finden.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Das ist eine sehr gute Frage.«
»Es ist richtig«, sagte Enrique. »Ich möchte das Richtige tun.«
»Jetzt
weiß
ich, dass Sie ein Romantiker sind. Sie könnten mir vielleicht doch nützlich sein.«
FÜNF
»Kelly führte ein Notizbuch, ein
cuaderno
mit Spiralbindung und rotem Einband. Ich habe es schon hier neben dem Telefon gesehen«, sagte Sevilla zu Enrique. »Die müssen es
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