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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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als wäre er nicht sicher, ob er eintreten oder weglaufen sollte. Ein Mann, der noch jünger aussah als er tatsächlich war, obwohl er sich größte Mühe gab, sein dünnes Ziegenbärtchen zu hegen und zu pflegen. Unter Sevillas Blicken setzte er zaghaft einen Fuß über die Schwelle, zog ihn aber wieder zurück. Seine Miene sah schuldbewusst aus.
    »Kommen Sie rein, wenn Sie reinkommen wollen«, sagte Sevilla. Er suchte nach etwas, wo er die Zigarette ausdrücken konnte, doch der Beistelltisch lag auf der Seite, der Aschenbecher war fort. Enrique trat ein und schloss die Tür hinter sich. Plötzlich machte das Wohnzimmer einen sehr dunklen Eindruck.
    »Ich will Sie nicht stören«, sagte Enrique.
    »Sie stören mich nicht. Woher wussten Sie, dass ich hier bin? Hat dieser
pendejo
Garcia Sie geschickt?«
    »Captain Garcia weiß nicht, wo ich bin. Ich habe mir den Tag freigenommen.«
    Enrique blieb linkisch an der Tür stehen. Sevilla beobachtete ihn, bis er die Hitze der Zigarette an den Fingern spürte. Er drückte die Kippe an der Schuhsohle aus. Enrique Palencia machte den Eindruck, als hätte er nicht nur eine, sondern möglicherweise zwei Nächte in seiner Kleidung geschlafen.
    »Wissen Sie, ich ertrage fast alles«, sagte Sevilla schließlich zu Enrique. »Was wir tun … Ich habe in meinen besten Zeiten schon Schlimmeres getan. Und ich habe mitgeholfen, wenn ältere Polizisten, weise Polizisten, etwas Schreckliches gemacht haben, um die Wahrheit herauszufinden. Ich habe das Blut gerochen. Ich hatte es an den Händen. Jetzt sind Sie dran.«
    Der junge Polizist antwortete nicht. Er ging über knirschende Glasscherben und zertrümmerte Teller in die Kochnische. Er betrachtete den Kühlschrank, aus dem sie selbst die Böden herausgerissen hatten. Als er den Blick kurz zu Sevilla schweifen ließ, vermied er Augenkontakt.
    Schließlich gab es nichts mehr zu begutachten. Enrique ließ die Hände verlegen an den Seiten herunterhängen. Erst da sah er Sevilla ins Gesicht.Er schwitzte. »Ich habe ihm das nicht angetan«, sagte er. »Aber ich weiß, wer es war.«
    »
Ich
weiß, wer es war«, antwortete Sevilla. »Oscar Garcia glaubt nichts, was man ihm sagt, wenn er nicht einen Knochen brechen kann, damit er es zu hören bekommt.«
    Enrique Palencia schwieg.
    »Sie haben mich angerufen«, sagte Sevilla.
    »Ja.«
    »Sie haben den Zettel ans Auto gesteckt.«
    »Ja.«
    »Möchten Sie mir verraten, warum?«
    »Ich konnte es nicht mehr ertragen.«
    »Sie haben neben Garcia gestanden«, sagte Sevilla. »Sie haben nicht
nein,
nicht
aufhören
gesagt. Wie oft waren Sie schon dabei?«
    »Sie haben selbst gesagt, dass Sie das auch getan haben«, erwiderte Enrique.
    »Das ist lange her.«
    »Die Zeit ändert nichts daran.«
    Darauf konnte Sevilla nur nicken.
    Enrique schwieg eine Weile. »Es war zu viel.«
    »Es ist zu viel«, stimmte Sevilla zu. »Danke. Kommen Sie her und setzen Sie sich.«
    Sevilla wartete, bis Enrique ein weiteres aufgeschlitztes Sofakissen gefunden hatte. Sie saßen jeweils an einem Ende des kleinen Diwans. Sevilla steckte sich noch eine Zigarette zwischen die Lippen und bot Enrique eine an. Sevilla sah, wie Enriques Hand zitterte, als er sie anzündete.
    Sie ließen ein wenig Zeit verstreichen und rauchten schweigend, bis Enriques Hände ruhiger wurden. »Nicht genug, dass sie Estéban Salazar zum Krüppel geschlagen haben, mussten sie es auch noch mit Kelly machen?«, fragte Sevilla schließlich.
    »Nein«, sagte Enrique. »Er hatte gar keine Fragen. Darum bin ich nicht mitgegangen. Er hat mich verspottet, aber
das
wollte ich dann doch nicht mitmachen.«
    »Er ist reingegangen, um ihn zu töten«, sagte Sevilla. »Einfach so? Aus eigenem Antrieb?«
    »Ich weiß nicht. Er ging in die Mittagspause und kam lange nicht zurück. Ich dachte, er wäre nach Hause gegangen, doch dann rief er mich an und sagte mir, dass ich länger bleiben sollte. Nach dem Schichtwechsel kreuzte er auf. Er sagte mir, was er vorhatte. ›Wenn er nicht redet, dann redet er eben nicht‹, sagte er. ›Was spielt das für eine Rolle, wir wissen doch, dass er es getan hat.‹«
    Sevilla überlegte, ob er die Zigarette wieder am Schuh ausdrücken sollte. Stattdessen trat er die Kippe in den Teppichboden. Der musste sowieso ausgewechselt werden. Enrique hielt die Kippe in beiden, über den Knien verschränkten Händen, saß vorgebeugt da und sah in den aufsteigenden Rauch, als lauerten dort die Erinnerungen. Er sagte nichts mehr.
    »Warum

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