Die toten Frauen von Juárez
mitgenommen haben. Wir sollten es uns ansehen.«
Enrique durchsuchte die verwüstete Kochnische, spähte in Schränke mit abgerissenen Türen und hob hin und wieder sogar die Scherbe eines Tellers mit der Fußspitze hoch und schaute darunter. Sevilla spürte die Anspannung des jungen Mannes, sah sie ihm an den hängenden Schultern an, auch wenn er den Unbeteiligten spielte. Enrique wäre ein grässlicher Boxer gewesen; seine Körpersprache verriet zu viel von seinen Gedanken.
»Sie müssen es beschaffen«, sagte Sevilla.
»Was steht denn drin?«, wollte Enrique wissen.
»Kellys ganzes Leben ist in diesem Notizbuch: Konten, Telefonnummern, Termine. Ich habe einiges kopiert, aber nicht die neueren Einträge, die uns jetzt weiterhelfen könnten. Ich möchte wissen, was er in der Zeit eingetragen hat, als Paloma starb.«
Enrique verschwand einen Moment im Schlafzimmer. Als er wiederkam, schüttelte er den Kopf. »Ich habe noch nie von einem Drogensüchtigen gehört, der Aufzeichnungen gemacht hätte. Jedenfalls keine, die einen Sinn ergaben.«
Sevilla stand von der Couch auf. Er spürte, wie er fast gegen seinen Willen eine verstimmte Miene aufsetzte, und verbarg das Gesicht vor Enrique. Er wollte sich nicht auch anmerken lassen, was er dachte. »Wenn Sie glauben, dass Kelly nur ein x-beliebiger amerikanischer Junkie ist, warum machen Sie sich dann überhaupt die Mühe mit ihm? Lassen Sie die sagen, dass er es zusammen mit Estéban getan hat, und die Sache ist gelaufen. Was spielt eine weitere tote Frau schon für eine Rolle? Nicht, dass wir nicht hundert andere Sorgen hätten, um die wir uns kümmern müssen.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Dann begreifen Sie eines: Ich kenne Kelly. Ich habe ihn lange beobachtet, mich mit ihm beschäftigt. Die Leute, die ihm das angehängt haben, für die war er ein Ausländer, ein Fremder. Über Ausländer weiß hier kaum jemand etwas. Diese Leute haben nicht mit jemandem wie mir gerechnet. Die dachten, Kelly ließe sich ganz leicht zum Sündenbock machen.«
»So war es auch.«
Sevilla schüttelte den Kopf. »Nur für manche.«
»Sogar für Sie«, beharrte Enrique.
»Anfangs«, sagte Sevilla, »aber nur, weil ich mit dem Kopf zugehört habe, nicht mit dem Herzen. Was sind wir für Menschen, wenn wir unsere Herzen vergessen?«
SECHS
Nachdem Enrique gegangen war, wartete Sevilla zehn Minuten, bis er Kellys Apartment verließ. Er tastete unter dem Fahrersitz, bis er den in Papier gehüllten Hals einer weiteren Flasche Johnny Walker berührte. Die Verlockung, selbst zu dieser frühen Tageszeit einen Schluck zu trinken, war groß, aber Sevilla wusste, ein Schluck würde zum nächsten führen, bis er zu betrunken zum Fahren wäre.
Er verstaute die Flasche wieder dort, wo sie hergekommen war. Zwei Flaschen in zwei Tagen wären zu viel. Viele Männer seines Alters lebten ständig in einem Alkoholnebel und betäubten damit ihre Sinne, während sie alterten und zu Staub zerfielen. Sevilla wollte nicht zu diesen Männern gehören, damals wie heute nicht, und so musste der Whisky noch mindestens einen Tag unter dem Sitz ausharren. Vielleicht vergaß er ihn sogar, und es verging eine Woche, bis Sevillas Durst ihn erinnerte, womit er seine Stimmung aufbessern könnte.
Er fuhr los, und während der Fahrt dachte er über Enrique Palencia nach.
Sevilla kannte Enrique überwiegend aus Captain Garcias Schatten. Wenn die Bundespolizei bei Drogenfällen mit den städtischen Ordnungshütern zusammenarbeitete, waren nicht selten Tote im Spiel. Die
narcos
des Südens tobten ihre Blutgier in Mexico City aus, die
narcos
des Westens in Tijuana. Mord, nicht Drogen, war ihr wichtigster Exportartikel. Und den verkauften sie ihren Landsleuten ebenso beflissen wie den Amerikanern. Garcia gehörte zu den Polizeibeamten, die man heutzutage in Ciudad Juárez schätzte: einer, dessen Fähigkeiten nicht darin bestanden, die Schichten einer Ermittlung nach und nach freizulegen, sondern sie regelrecht in Stücke zu reißen.
Enrique mangelte es an der Härte und Gewissenlosigkeit Garcias, doch das war nur eine Frage der Zeit. Der unbarmherzige Wind der Wüste wehte durch Juárez. Hitze, Sand und die schiere Windstärke machten Stein mürbe und schmirgelten die weichen Stellen eines Mannes ab, bisnur noch scharfe Kanten und die unterschwellige Spröde übrig blieben, die ein unerwarteter Hieb zu zerschmettern vermochte. Garcia war ein Meister, was solche Hiebe betraf.
Sevilla hielt an einer Ampel und
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