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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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unterhielt sich mit seinem besten Freund, dem Gringo.
    Manchmal, wenn Stille herrschte und Estéban nichts anderes tun musste als unbehelligt und allein auf seiner Pritsche zu liegen, schweiften seine Unterhaltungen mit Kelly ab. Manchmal in den Bereich reiner Spekulation. Er sah eine Hochzeit in Kellys Zukunft, und auch wenn es eigentlich Frauensache war, redeten sie darüber, was für Gäste eingeladen werden würden, wo das Brautpaar die Flitterwochen verbringen, und wenn der ganze Zirkus vorbei war, wann es Nachwuchs geben würde.
    »Ich bin bestimmt ein guter Onkel«, sagte Estéban. »Ich werde sie völlig verziehen.
›Tío Estéban, tío Estéban! Qué tú nos trajó?‹
Und dann gebe ich ihnen Süßigkeiten und allen möglichen Plunder. Das machen Onkel so.«
    Kelly stimmte zu, dass Onkel das so machten. Sie ließen einen auf dem Schoß sitzen, schleppten Hündchen an und kauften Geburtstagsgeschenke. Sie nahmen ihre Neffen mit zum Angeln und spendierten ihnen manchmal heimlich ihr erstes Bier. Darauf freute sich Estéban, wenn Kelly und Paloma endlich heirateten.
    In der Kantine saß Estéban bei den anderen Invaliden und aß seine Mahlzeiten. Er blickte über das Tablett und die zerkratzte Metallplatte des Tischs hinweg zu einer kurvigen Straße im Sonnenschein, die nach Süden führte, zu warmem Wasser und Stränden und Mazatlán. Manchmal sah er dort Klippenspringer, manchmal Touristen mit Gleitschirmen hinter Schnellbooten zwischen den großen Felsklippen, die wie Segelschiffe auf dem Meer aussahen.
    Willst du noch ein Bier?,
fragte Kelly Estéban. Und ob er noch eines wollte.
    Das Bier war kühl und erfrischend und perfekt. Hitzeflimmern stieg über den Betonrampen des Parque Xtremo auf. Die Skater gingen trotz derHitze ihrem Zeitvertreib nach. Sie schossen über die Mulden hinaus und wirbelten durch die Lüfte, als wäre die Schwerkraft für sie vorübergehend aufgehoben, bis sie wieder nach unten verschwanden.
    Estéban legte Kelly eine Hand auf die Schulter und drückte sie.
    Was ist denn los?
    »Ich wollte mich nur vergewissern, dass du noch da bist«, antwortete Estéban. »Manchmal … manchmal kommt mir das alles wie ein Traum vor. Ich will aber nicht aufwachen,
carnal.
Ich will hier sein.«
    Sonntags aßen sie gemeinsam im Haus zu Mittag. Paloma servierte ihnen das Essen in ihrem hellen Kleid, das die Sonne reflektierte. Heute beschloss Estéban, dass er hinterher nicht kiffen würde, und so saßen sie zu dritt in dem Wohnzimmer mit Blick auf das Gemälde der Jungfrau von Guadalupe. Estéban empfand stets Unbehagen, wenn er es betrachtete, aber jetzt störte es ihn nicht. Nicht mehr. Jetzt bedeutete es, dass er zu Hause war, nicht in einem dunklen, dreckigen und grässlichen Loch.
    Zwei Männer brüllten einander über den Tisch hinweg an. Bänke und Tische waren am Boden festgeschraubt, Geschirr und Besteck bestanden aus dünnem Plastik, daher benutzten sie zuerst die Tabletts als Waffen, danach Hände und Füße. Das Paar wuchs zum Quartett an, dann zum Dutzend. Essen fiel herunter und wurde zertreten. Lang unterdrückte Kränkungen machten sich plötzlich und brutal Luft. Von alledem bekam Estéban nichts mit.
    »Ich wusste, dass du ein Mann bist, auf den ich mich verlassen kann«, sagte Estéban im Parque Xtremo zu Kelly. »Das wusste ich von Anfang an, weißt du?«
    Sie saßen auf der kleinen Couch im Wohnzimmer. Paloma hatte schon
limonada
aufgetischt. Estéban hörte sie in der Küche mit Töpfen und Geschirr hantieren.
    »Ich bin froh, dass du meine Schwester heiratest. Ich bin froh, dass wir Schwager werden oder Brüder. Ich habe mir immer einen Bruder wie dich gewünscht.«
    Er wollte Kelly umarmen, doch das wären dann doch zu viele offen gezeigte Gefühle zwischen zwei Männern gewesen. Sie stießen die Fäusteaneinander. Estéban trank einen Schluck Limonade. Sie schmeckte wie Bier.
    »Ich finde, wir sollten alle gemeinsam nach Mazatlán fahren«, sagte Estéban.
    Um ihn herum waren die Invaliden aufgestanden, sprangen die Aufseher brüllend und mit Schlagstöcken zwischen die Streithähne. Estéban blieb selbst dann noch blind und taub sitzen, als ein Häftling ihm ein scharfes Stück Stahl in die Kehle stieß. Er fiel zu Boden, sah aber nicht die Blutlache, die sich um ihn herum bildete; er sah nur das Haus, das nach und nach verblasste, während Paloma aus der Küche kam und sich zu ihnen setzte, und er sah Kelly, der in der Sonne lächelte, bis die Sonne schwarz wurde.

Vierter

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