Die toten Frauen von Juárez
ähnliche Gemeinden. Sie lagen verstreut im gesamten Gebiet rund um Ciudad Juárez, fernab und abgeschirmt von den unschönen Seiten des Stadtzentrums, von Verbrechen und Gewalt. Die großen Häuser gehörten den Männern, die die
maquiladoras
betrieben oder durch andere Geschäfte reich geworden waren. Manche waren Rancher, deren Land hunderte Meilen entfernt lag. Wieder andere verdienten ihr Geld jenseits der Grenze, in den Vereinigten Staaten, brachten ihr Vermögen jedoch hier vor amerikanischen Steuereintreibern in Sicherheit.
Ortíz war nicht reich genug, als dass er sich ein Haus in so einer Gegend hätte leisten können. Das wusste Enrique, auch ohne danach zu fragen. Die Männer und Frauen der abgeschotteten Gemeinden fuhren Bentley und Mercedes und saßen nicht zusammen mit anderen in einem Pick-up. Wahrscheinlich würde keiner von ihnen auch nur den Sitz eines Pick-up berühren; vermutlich kamen sie nicht einmal je in die Nähe von einem.
Erneut rief er Sevilla an und hörte wieder nur die Mailbox. »Rufen Sie mich zurück, wenn Sie können«, sagte Enrique und warf das Telefon auf den Sitz neben sich.
Enrique war aufgeregt, kam sich aber gleichzeitig wie ein Narr vor. Fragen, zusammenhanglose Informationen, Namen und Gesichter, die er nicht kannte, wirbelten in seinem Verstand durcheinander. Stundenlang war Ortíz nur ein Phantom für ihn gewesen, und plötzlich erschien er aufder Bildfläche, aß mit Captain Garcia zu Mittag und fuhr durch die Stadt wie der Steuereintreiber eines mächtigen Fürsten, dem alles Land gehörte, so weit das Auge reichte.
Der Gedanke machte ihn stutzig. Enrique sah zu dem Zaun, der immer noch parallel zur Straße verlief und ein Gelände abschirmte, auf dem kein Haus stand und das niemand je besuchte. Nicht einmal Straßen führten dahin, die von neuem Leben gekündet hätten. Den Leuten von Los Campos gehörte dieses Land, weil sie es sich leisten konnten, aus keinem anderen Grund.
Er wollte Sevilla ein drittes Mal anrufen, doch das musste warten. Stattdessen fuhr er weiter.
ACHTZEHN
In El Cereso bekam jeder von allem ein klein wenig, aber nicht mehr: ein klein wenig Platz, ein klein wenig Zeit, ein klein wenig Sicherheit. Selbst die Häftlinge, die verletzt wurden, durften bestenfalls mit ein klein wenig Aufmerksamkeit rechnen, lediglich die mit gravierenden Verletzungen brachte man auf einer separaten Station mit acht Betten unter. Estéban gehörte zu diesen acht, die man nach einem exakt festgelegten Zeitplan in die Kantine schaffte, damit die Leidgeprüften nicht in der Warteschlange stehen mussten, ihre Mahlzeiten aber dennoch zusammen mit den anderen einnehmen konnten.
Mit ihren Knochenbrüchen und Stichen waren sie die wandelnden Schwerverletzten von El Cereso. Estébans Gips reichte von den Fingerspitzen bis zur Mitte des Oberarms. Er hinkte, da seine Beine nach den Prügeln immer noch wund waren und man ihm die Knochen so sehr überdreht hatte, dass sie fast aus den Gelenkpfannen gesprungen waren.
Blickkontakt betrachtete man in jedem Teil des Gefängnisses mit Missfallen, und die medizinischen Sonderfälle steckten gleich doppelt in der Klemme. Die anderen wussten, dass diese Männer mehr Platz, mehr Freiheiten und mehr Ruhe genossen als der Rest. Diejenigen, die nur wenig hatten, hassten alle, die in den Genuss auch nur winzigster Vergünstigungen kamen, und dachten nicht daran, dass diese Vorzüge mit einem extrem hohen Maß an Leid erkauft worden waren.
Estéban balancierte sein Tablett in der Beuge des Gipsverbands. Er konnte es nicht wie alle anderen ausstrecken, und die Männer hinter den Warmhalteplatten murrten und fluchten, weil das ein winziges bisschen mehr Arbeit für sie bedeutete. »Warum brichst du dir nicht auch noch den anderen Arm?«, fragte einer der Kantinenarbeiter und klatschte schwarze Bohnen auf den Teller. »Dann kann dich eine hübsche Krankenschwester füttern.«
Auf so etwas antwortete Estéban nicht.
Er hatte El Cereso, die Verhörräume, die Häftlinge, die Aufseher undPolizisten längst hinter sich gelassen. Er hatte die ganze Stadt hinter sich gelassen. Sein Körper funktionierte auf Autopilot, er schaufelte ohne fremde Hilfe Nahrung in sich hinein und erledigte alle Handgriffe, die sein Selbsterhalt gebot, weil ein Teil von Estébans Gehirn wusste, dass sie notwendig waren. Er befand sich bei den Skaterampen des Parque Xtremo im Schatten des Kletterturms. Er aß scharf gewürzte
tamales,
trank Bier, rauchte Gras und
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