Die toten Frauen von Juárez
Teil
JUSTICIA
EINS
Die Kirche trug den Namen Iglesia del Anuncio, Kirche der Verkündigung, und war nicht das hässlichste derartige Gebäude, das er je gesehen hatte, aber fast. Das ganze Viertel ringsum zerfiel zu sonnengebleichtem Staub, genau wie das Kirchenschiff, innerlich und äußerlich. Wandgemälde verblassten, selbst das große Kruzifix über dem Altar war rissig, und die Farbe blätterte ab. Wenn nicht genügend Geld oder freiwillige Helfer zur Verfügung standen, überlegte Sevilla, war eine Kirche offenbar bereit zu sterben.
Er setzte sich ein gutes Stück entfernt von Ella Arellano, sah sie aber gut. Sie trug Schwarz, genau wie die Frauen um sie herum. Sie trafen sich zum genannten Zeitpunkt vor der Kirche. Sevilla kam ihnen nicht zu nahe, merkte jedoch, dass Ella seine Anwesenheit nicht entging.
Der ramponierte alte Beichtstuhl stand ganz in der Nähe und zog während des langen Gottesdienstes immer wieder Sevillas Blicke auf sich. Seit Lilianas Tod hatte er keinen mehr betreten, was ihm nichts weiter ausmachte. Wenn er etwas zu beichten hatte, dann beichtete er es ihr. Wenn seine Sünden zu viel für Liliana waren, dann konnte ein Priester sie erst recht nicht begreifen.
Er sprach die Gebete aus Gewohnheit mit und sang die Lieder aus dem Gedächtnis. Während der Kommunion blieb er in seiner Reihe sitzen, legte aber zweihundert Pesos in die Kollekte. Hinterher zündete er eine Kerze für Estéban Salazar an. Die alte Kirche erfüllte ihn mit Traurigkeit, da sie so ungeliebt wirkte. Die Hälfte der Plätze blieb leer, die wenigen Gläubigen sahen ziemlich überaltert aus.
Als die Messe zu Ende war, schlenderte Sevilla hinter Ella und den Frauen hinaus. Ella kam in der Vorhalle zu ihm, während die Frauen nacheinander den Priester begrüßten. Sie trug wie die anderen einen Schleier und sah viel älter aus, als Sevilla sie in Erinnerung hatte. »Danke«, sagte sie.
»Sie müssen mir nicht danken«, antwortete Sevilla. »Ich wollte Sie sprechen.«
»Haben Sie ein Auto?«, fragte Ella.
»Ja.«
»Kommen Sie zu uns. Wir anderen gehen zu Fuß.«
Sie nannte ihm eine Adresse, die Sevilla sich notierte. Er kannte die Straße nicht, wusste aber, dass er sie finden würde.
»Wer sind die?« Sevilla meinte die Frauen in Schwarz.
»Die sind wie Sie«, antwortete Ella. Sie ging wieder zu ihnen.
Sevilla verließ die Kirche und kehrte zu seinem Auto zurück. Auf der Suche nach der Adresse bog er zweimal falsch ab, schaffte es aber dennoch vor Ella und den Frauen in Schwarz. In dieser verschlafenen sonntäglichen Nebenstraße kam er sich hinter dem Lenkrad albern und ungeschützt vor, aber niemand beobachtete ihn.
Schließlich sah er sie kommen, eine kleine Prozession für irgendeine Sache oder einen nicht näher bestimmten Heiligen. Als er aus dem Auto stieg, zögerte die ganze Gruppe, doch Ella beruhigte sie. »Treten Sie ein«, forderte sie Sevilla auf.
Das Haus war klein und armselig, wie die anderen ringsum. Alle zusammen fanden kaum genügend Platz, doch sie bewegten sich, als hätten sie lange Übung darin. Nur Sevilla wirkte fehl am Platz. Andauernd entschuldigte er sich und wich ständig hierhin und dorthin aus, weil er immer zur falschen Zeit an der falschen Stelle stand.
Nach einiger Zeit gab es etwas zu essen und zu trinken, und die Frauen ließen sich nieder. Davor hatten sie über Themen geredet, über die arme Frauen eben redeten: Familie und Geld und Neuigkeiten aus der Nachbarschaft, die Außenstehenden im Grunde genommen völlig egal waren. Das alles interessierte Sevilla herzlich wenig, doch dann sahen sie ihn an, als könnten seine nächsten Worte alles verändern.
»Sie sind umgezogen«, sagte Sevilla zu Ella.
»Die beobachten mich.«
»Wer?«
»Die Männer in dem schwarzen Pick-up. Die Paloma mitgenommen haben.«
Sevilla verspürte Eiseskälte. Er griff zum Notizblock und bildete sichein, dass es eine Ewigkeit dauerte, bis er ihn fest in der Hand hielt. »Sie haben gesehen, wie jemand sie mitgenommen hat?«
»Ja.«
Ella erzählte Sevilla die Geschichte von den Müttern der Vermissten, von Paloma und den Männern, die mit dem schwarzen Pick-up kamen. Sie zeigte Sevilla ihre verblassenden Blutergüsse. Die ganze Zeit über hörten die Mütter schweigend zu, wie stumme Zeugen aus Stein.
»Haben sie Namen genannt?«, fragte Sevilla. »Haben sie sich miteinander unterhalten?«
»Keine Namen.«
»Haben Sie einen Mann namens Ortíz gesehen?« Sevilla beschrieb ihn, doch die
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