Die toten Frauen von Juárez
Mütter schüttelten die Köpfe.
»Drei Männer«, sagte Ella. »Groß. Stark.«
»Sie sind Feiglinge«, sagte eine der Mütter. »Wer, außer einem Feigling, würde eine Frau schlagen?«
Sevilla ließ nicht locker. »Haben Sie diesen Mann, von dem ich spreche, jemals gesehen? Was ist mit dem Nummernschild des Wagens? Haben Sie das gesehen?«
Eine der Mütter hob zaghaft die Hand. Die Geste eines Schulmädchens, aber sie war nicht mehr jung. »Ich habe ihn gesehen.«
»Tatsächlich? Wo?«
»Es ist lange her«, antwortete die Frau. »Aber vor Jahren kam er her und sprach die Mädchen aus der Gegend wegen Partys an. Wir wussten, dass das nur eine Täuschung war, er suchte junge Frauen für Bordelle, aber manche gingen trotzdem mit.«
Sevillas Herz schlug schneller, doch seine Hände blieben ruhig. Er stellte fest, dass er kein Verlangen nach Alkohol verspürte. Sein Kopf war klar. »Wie lange ist das her? Kam er immer allein? Erzählen Sie mir alles, woran Sie sich erinnern können.«
Die Frau gehorchte, doch es lief auf recht wenig hinaus. Als das Thema wieder auf den schwarzen Pick-up und die großen, kräftigen Männer kam, gab es nichts Neues mehr. Die Männer schlugen blitzschnell zu und verschwanden ebenso schnell wieder.
»Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?«
Ella schüttelte den Kopf. »Das sind wir.«
»Was? Wirklich?«
»Ja. Wir waren sofort bei der Polizei, und die haben ein Protokoll aufgenommen. Wir alle haben die gleiche Geschichte erzählt.«
Sie nannten Sevilla das Polizeirevier. Er kannte es, war auf dem Weg zur Kirche sogar daran vorbeigekommen. Ein kleines Revier, nur eine Handvoll Polizisten für ein Viertel, das ebenso dicht bevölkert war wie das Stadtzentrum, doch die Armen bezahlten nur wenig Steuern.
»Das verstehe ich nicht. Sie haben an dem Tag
alle
eine Aussage gemacht?«
»Ja. Aber die Polizisten haben uns nicht zugehört. Sie hören nie zu. Schon vor den Drogenkriegen haben sie nie auf Frauen gehört. Frauen haben keine Stimme.«
Sevilla lehnte sich in dem kleinen, geraden Stuhl zurück, den sie ihm gegeben hatten. Er dachte einen Moment nach, um das Gehörte zu verarbeiten, und rieb sich die Augen dabei, um diese Tatsache zu verbergen. Als er wieder hinsah, wirkten die Mütter der Vermissten so ernst wie zuvor, doch er spürte ihren Zorn.
»Ich habe keinen Bericht gesehen«, sagte er. »Aber ich bin auch Bundespolizist.«
»Dann können Sie nichts tun?«, fragte eine der Mütter.
»Ganz machtlos bin ich nicht. Ich kenne einen Mann bei der städtischen Polizei, der kann Fragen stellen. Eines müssen Sie verstehen: Der Krieg gegen die Drogen hat überall Vorrang. Außerdem haben sie zwei Verdächtige und ein Geständnis. Ganz sicher will niemand den Fall neu aufrollen.«
Ella schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Diese Männer waren keine Amerikaner, und Palomas Bruder gehörte auch nicht dazu.«
»Das weiß ich«, sagte Sevilla. »Aber etwas wissen und etwas beweisen sind zwei Paar Schuhe.«
»Dann beweisen Sie es«, sagte Ella. »Wir sind alle Zeuginnen! Wir haben gesehen, wie es passiert ist!«
Sevilla legte seine Hand auf Ellas, und sie stieß ihn nicht weg. Er setzte seine Stimme ein, wie man es ihm vor langer Zeit beigebracht hatte. Manches änderte sich nie. »Ich finde es heraus. Ich verspreche, dass ich unaufhörlich Fragen stellen werde. Jemand muss die Antworten kennen. Und ich werde sie erfahren.«
»Geben Sie kein Versprechen, das Sie nicht einlösen können«, sagte Ella.
»Keineswegs. Das kann ich. Wenn die Zeit reif ist, haben Sie eine Stimme. Sie können es allen erzählen. Und man wird Ihnen zuhören.«
ZWEI
»Haben Sie getrunken?«, fragte Enrique Sevilla, als sie zusammen im Wohnzimmer saßen und sich vergewissert hatten, dass niemand sie durch das Fenster beobachtete. Sevilla zog die Vorhänge zu. Den ganzen Tag hatte er eingebildete Blicke auf sich gespürt. Als er nach Hause gekommen war, war er dreimal um den Block gefahren und hatte sich albern dabei gefühlt, aber nicht anders gekonnt.
»Keinen Tropfen«, antwortete Sevilla wahrheitsgemäß.
Sie saßen sich an einem kleinen Beistelltisch mit grell gestrichenen Beinen und einer Platte aus alten Bodendielen gegenüber. Einer von Lilianas Funden. Sevilla fand ihn auf charmante Weise hässlich. Jetzt hatte er seine Notizen darauf ausgebreitet.
»Es gibt kein Protokoll«, sagte Enrique. »Ich habe dreimal angerufen. Zu oft. Jemand dürfte erfahren, dass ich mich umgehört
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