Die toten Frauen von Juárez
habe, aber ich wollte es wissen. Es gibt kein Protokoll.«
»Diese Frauen haben mich nicht angelogen, Enrique.«
»Das behaupte ich auch nicht. Ich sage nur,
es gibt kein Protokoll.
«
»Der Pick-up. Der Mann. Ortíz. Er ist es«, sagte Sevilla.
Enrique sortierte die Zettel mit Sevillas Notizen wie Spielkarten, als suchte er nach einem verborgenen Gesamtbild, das nur ans Licht kommen würde, wenn sie in der richtigen Reihenfolge lagen. Er runzelte die Stirn, der Ansatz einer finsteren Miene umspielte seine Mundwinkel. Für Sevilla sah er wie ein richtiger Polizist aus. »Da wäre noch Madrigal.«
»Rafa Madrigal ist kein Krimineller«, sagte Sevilla. »Ich bin ihm einmal in Mexico City begegnet. Bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung der Polizei. Wir haben uns ein paar Minuten unterhalten. Er ist Rancher, ihm gehören zwei
maquilas.
Was sollte er mit jemandem wie Ortíz zu schaffen haben?«
»Das habe ich mich auch gefragt.
Was
hat er mit jemandem wie Ortíz zu schaffen? Sie haben Los Campos nicht gesehen, aber ich; Männer wie er kommen da niemals rein, außer mit Einladung. Weder Sie noch ich kämen da rein.«
»Ich glaube, Madrigals ältester Sohn ist an einer Überdosis gestorben, drüben in Texas«, sagte Sevilla. »Er interessiert sich nicht für Ganoven. Sie haben es selbst gesagt: Im besten Fall ist Ortíz ein Spieler und Boxmanager. Im schlechtesten ist er ein Zuhälter.«
»Warum war er dann dort? Wie ist er reingekommen? Denken Sie nach, Señor Sevilla.«
Sevilla sank in dem Sessel zurück. Unausgegorene Ideen und Gedanken gingen ihm durch den Kopf, darunter einer, der immer mehr die Oberhand gewann, obwohl er darüber am wenigsten nachdenken wollte; zum ersten Mal an diesem Tag sehnte er sich nach etwas zu trinken. »Ich weiß nicht«, sagte er.
»Sie
wissen
es.«
Er ging die Notizen durch. Manches war eingekreist, unterstrichen und mit Pfeilen hervorgehoben. Allein bei Ella Arellano und den Müttern der Vermissten hatte er fünf Seiten gefüllt. Zweimal war er an dem kleinen Polizeirevier vorbeigefahren, wo sie ihre Aussagen zu Protokoll gegeben hatten, und beide Male hatte derselbe Gedanke in seinem Hinterkopf genagt und sich langsam in den Vordergrund gefressen.
»Ortíz könnte keinen Polizeibericht verschwinden lassen.«
»Nein«, stimmte Sevilla zu.
»Aber er kennt Garcia. Wenn jemand Erfahrung darin hat, Beweise verschwinden zu lassen, dann er.«
»Captain Garcia tut nicht jedem Dahergelaufenen einen Gefallen«, sagte Enrique. »Ich bin seit zwei Jahren bei ihm. Ich bin La Bestias Diener, ich würde es wissen.«
»Das stimmt nicht«, sagte Sevilla. Er richtete sich auf. Der Gedanke lag ihm auf der Zunge, wenn er ihn nur aussprechen könnte.
»Was?«
»Sie sind nicht sein Diener. Sonst wären Sie nicht hier. Sie würden diese Fragen nicht stellen.
Das
weiß ich mit Sicherheit.«
»Dann wissen Sie …«
»Sprechen Sie es nicht aus«, unterbrach Sevilla ihn.
»Jemand muss es aussprechen.«
»Sie haben es selbst gesagt, Enrique: Weder Sie noch ich würden jemals das Haus von jemandem wie Rafa Madrigal von innen zu sehen bekommen. Und schon gar nicht La Bestia. Ortíz ist der Mittelsmann, der Unterhändler. Wenn er sich mit Garcia unterhält, kommt niemand auf dumme Gedanken. Niemand schenkt dem auch nur die geringste Beachtung, denn wen kümmert es schon? Wir haben
narcos,
die andere
narcos
auf offener Straße erschießen. Der gottverdammte Polizeichef wurde ermordet. Wen kümmern da schon zwei Männer, die gemeinsam zu Mittag essen?«
»Und wen kümmert schon ein verschwundener Bericht?«, fügte Enrique hinzu.
Als Sevilla die Seiten mit seinen Notizen abermals betrachtete, fügte sich das Gesamtbild zusammen und ließ ihn erzittern. Er ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Die Haut über den Knöcheln war alt. Er selbst war alt und fühlte sich auch so.
»Was denken Sie?«, fragte Enrique.
»Ich denke, dass Sie Ortíz noch einmal verfolgen sollten. Und dass ich etwas Dummes machen werde.«
DREI
Die Bank stammte aus einer Zeit, als solche Gebäude noch wie Paläste gebaut worden waren, wie Festungen des Mammons oder Kathedralen. Hier brachten Gläubige ein Opfer von wenigen hundert Pesos dar und legten damit den Grundstock für einen Traum. Sevilla erinnerte sich noch gut daran, wie er zweiundzwanzig war und genügend zusammengespart hatte, um ein Konto zu eröffnen. Die Bank hatte sich nicht sehr verändert.
Immer noch saßen die Kassierer in
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