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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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verstecken, daher beschloss er, sich hinter die Warteschlange zu ducken. Enrique ließ die Schultern hängen und beugte sich wie angeschossen vornüber. Er riskierte einen Blick durch das Fenster des Restaurants und sah Ortíz mit seinem Leibwächter an einem der hinteren Tische sitzen. Garcia durchquerte den Speisesaal und gesellte sich zu ihnen. Ortíz schüttelte dem Polizisten die Hand und gab ihm zu verstehen, dass er sich dazusetzen sollte.
    Enrique wartete nicht ab, was sie zu essen bestellten.

SECHZEHN
    »In diesem Krankenhaus entbinden sie Babys«, sagte Sevilla zu Kelly.
    Kelly ließ nicht erkennen, ob er ihn gehört hatte. Er blieb völlig reglos, die einzigen Geräusche, die er von sich gab, stammten in Wahrheit von den Maschinen, die ihn überwachten, ihm Flüssigkeit zuführten und dafür sorgten, dass er atmete, wenn er atmen sollte, und dass sein Herz schlug, wenn es schlagen sollte.
    Sie waren allein. Selbst die Polizeiwachen hatte man abgezogen, da es nicht so aussah, als würde Kelly aufwachen. Die Schwestern baten Sevilla, das Handy auszuschalten und nicht zu rauchen. Er fragte, wo er etwas zu trinken bekommen könne, woraufhin sie ihm einen Tetrapak mit Saft und einen mit Milch brachten. Er hatte weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen, sein Magen knurrte.
    Wenn Sevilla mit Kelly sprach, dann auf Englisch. So handhabten sie es immer: Sie sprachen Englisch. Da Juárez so dicht bei Amerika lag, so nahe, dass die Grenze praktisch durch einen Häuserblock verlaufen könnte, verstand Sevilla nicht, weshalb die Leute die Sprache des Nordens nicht lernten. Es war störrisch und hochmütig, wenn man in Ciudad Juárez ausschließlich Spanisch sprach, und beides wollte Sevilla nicht sein; wenn er Amerikanern begegnete, unterhielt er sich stets auf Englisch mit ihnen, auch wenn sein Englisch nicht perfekt war.
    »Meine Enkeltochter ist natürlich nicht hier zur Welt gekommen«, fuhr Sevilla fort. »Meine Frau und ich haben darüber gesprochen, ein Stück aus der Stadt rauszuziehen, damit wir einen Garten haben und vielleicht eine Ziege halten könnten. Aus Ziegenmilch kann man leckeren Käse machen.«
    Selbst die schwärzesten Blutergüsse Kellys verblassten mittlerweile. Seine Verletzungen heilten, aber er wachte nicht auf.
    »Meine Enkeltochter hieß Ofelia. Ihr Vater … sprechen wir nicht von ihm. Sein Abschiedsgeschenk an uns war die kleine Ofelia, und es war das beste Geschenk, das er uns machen konnte. Ich glaube, dass er sienicht einmal im Krankenhaus besuchen kam. Er rief Ana weder an noch schrieb er ihr. Gut möglich, dass er tot ist. Ich habe gehört, er soll nach Monterey gezogen sein, aber das kann ich unmöglich nachprüfen. Es ist mir auch egal.
    Sie hatten große Ähnlichkeit miteinander, meine Ana und Ofelia. Wenn man Ofelia nur ansah, wusste man, dass sie heranwachsen und genauso lebendig und glücklich werden würde wie ihre Mutter. Was in dieser Stadt schon viel heißt. Aber das muss ich Ihnen ja nicht sagen.«
    Sevilla machte sich an den gewachsten Pappkartons der Getränke zu schaffen, während er das alles von sich gab, zog die Falze auseinander und drückte sie langsam flach. Er verspürte den Drang, wenigstens etwas mit den Händen zu machen, wenn er schon stillsitzen musste. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln und die Stille gingen ihm auf die Nerven; lange würde er es hier bestimmt nicht mehr aushalten.
    »Natürlich machten wir uns Sorgen, als Ana und Ofelia verschwanden. Eine Mutter und ihre Tochter verschwinden nicht einfach so. Jedenfalls nicht unsere Ana. Dieser
rulacho
von einem Ehemann, bei dem verhielt es sich ganz anders, und offen gestanden dachte ich anfangs, er hätte dabei seine Hände im Spiel. Aber so einfach war es nicht.
    Da lernten wir Paloma kennen. Ich kannte sie schon Jahre vor Ihnen, Kelly. Sie und die anderen Frauen machten Flugblätter von Ana und Ofelia und ließen bei der
Procuraduría
nicht locker. Für sie spielte es keine Rolle, dass ich Polizist war; sie wollten nur helfen … und meine Mädchen nach Hause bringen.«
    Danach schwieg er eine Weile und lauschte den gedämpften Geräuschen der Maschinen. Irgendwo auf dem Flur unterhielten sich zwei Krankenschwestern über einen anderen Patienten und beklagten sich anschließend über die Dienstpläne und die vielen Überstunden. Sevilla vermutete, dass solche Unterhaltungen überall geführt wurden, sogar hier.
    »Ich wünschte, Sie könnten mit mir reden, Kelly«, sagte Sevilla, dann

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