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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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messingverzierten Kabuffs, doch heute befanden sie sich hinter einer dicken Schicht Panzerglas, das sie vor modernen Banditen beschützen sollte. Auf den Schreibtischen, wo Männer in Anzügen über Kredite und Darlehen entschieden, standen Computer anstelle von Schreibmaschinen, und irgendwann im Lauf der vergangenen Jahrzehnte hatte man eine Klimaanlage eingebaut, um die Arbeitsatmosphäre in dem Gebäude angenehmer zu machen.
    Sevilla war speiübel; mehrmals dachte er daran, dass er es sich einfach noch mal anders überlegen und die Flucht ergreifen sollte, während er in der Schlange der vormittäglichen Kunden wartete, doch er blieb standhaft. Als er schließlich an die Reihe kam, betrachtete der Kassierer die Summe auf dem grünen Abhebungsbeleg mit erstaunter Miene. »Sind Sie sicher,
Señor

    »Ja, ganz sicher«, antwortete Sevilla, obwohl es nicht stimmte.
    »Möchten Sie die Summe als Barscheck?«
    »Ich möchte Bargeld. Große Scheine.«
    »Möchten Sie mit dem Direktor sprechen?«
    »Nein.«
     
    Sevilla verstaute das Geld in einer Aktentasche und kam sich einen Moment lang wie einer seiner
narcos
vor, die ein paar tausend fein säuberlich zu Bündeln ordneten und dann wie Backsteine aufeinanderschichteten, bis sie eine ganze Mauer aus nagelneuen Fünfhundertpesoscheinen hatten.
    Er fuhr zu einem Ort, den er im Telefonbuch gefunden hatte. Seine Dienstwaffe legte er gewissenhaft ins Handschuhfach des Autos und schloss ab, damit man ihm keine unangenehmen Fragen stellen würde.
    In dem Geschäft standen Schneiderpuppen mit Anzügen, manche Anzüge vollständig, andere in unterschiedlichen Phasen der Vollendung. Ballen teuren Stoffs lagen in Holzfächern, der Geruch von Dampfbügeleisen und Zigarren lag in der Luft. Der Schneider, ein Mann mit grauem Bart, war einen ganzen Kopf kleiner als Sevilla. Er trug ein Nadelkissen an einem Band um das linke Handgelenk und trug eine grüne Schirmmütze, die Sevilla an die Bank erinnerte, aus der er gerade gekommen war.
    »Guten Tag,
Señor «
, sagte der Schneider.
    »
Buenas tardes.
Ich brauche einen Anzug.«
    Der Schneider machte eine Geste, die die Stoffe, die Schneiderpuppen, den gesamten Laden einschloss. Hinter ihm stand ein großer Tisch mit auf der Platte angebrachten Messlatten. Durch eine offene Tür sah man im Hinterzimmer zwei Nähmaschinen und mehrere in Arbeit befindliche Anzüge. »Ich werde mein Bestes tun«, sagte er.
    »Eigentlich«, sagte Sevilla, »brauche ich mehr als einen. Und ich brauche sie schnell. Innerhalb von drei Tagen. Den ersten schon morgen.«
    »Das geht, aber eine Eilbestellung kommt teurer.« Der Schneider betrachtete Sevillas Anzug, die Falten und die matte Farbe, die einmal fast makellos weiß gewesen war. Er rümpfte nicht gerade die Nase, aber Sevilla entging seine Geringschätzung nicht. »Lässt sich
Señor
zum ersten Mal einen Maßanzug anfertigen?«
    »Ist das so offensichtlich?«, witzelte Sevilla.
    »Ja,
Señor,
doch das spielt keine Rolle. Jeder Mann lässt sich irgendwann einmal einen Anzug maßschneidern. Manche früher, andere später.«
    Sevilla stand mit hängenden Armen vor ihm. »Wie geht es jetzt weiter?«
    »Als Erstes leistet
Señor
eine Anzahlung für die Anzüge.«

VIER
    Einmal pro Stunde, manchmal öfter, rief Garcia bei Enrique an. Jedes Mal drückte Enrique den Anruf weg. Nach einer Weile schaltete er den Klingelton ganz aus. Er erwartete keinen Anruf von Sevilla, und falls doch einer kam, könnte er schnell genug zurückrufen. Falls es zum Schlimmsten kommen sollte, konnte Enrique unter dem Namen Villalobos eine Nachricht im Hotel Lucerna hinterlassen.
    Beim Pokern nannte man das
all in,
ein Ausdruck, den Enrique in Las Vegas gelernt hatte, wo er Spiele beobachtete, bei denen es um mehr Geld ging, als er jemals verdienen würde, selbst wenn er sein Leben lang arbeitete. Die Männer, manchmal auch Frauen, wirkten so selbstsicher in ihren Bewegungen, wenn sie Chips in die Mitte des Tisches schoben, die tausende US-Dollars wert waren, als wären die bunten Scheiben nicht mehr wert als das Plastik, aus dem sie bestanden. Er wusste, dass hinter diesen ausdruckslosen Gesichtern, diesen
poker faces,
Angst lauern musste, dennoch ließen die Spieler sich nicht das Geringste anmerken.
    Zuerst widersprach Enrique Sevilla, doch je länger sie stritten, desto logischer kam ihm alles vor. Letztendlich waren sie auf sich allein gestellt, der Fall, um den sie sich kümmerten, bereits abgeschlossen. Ein Täter hatte

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