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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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gestanden und war tot, der andere so gut wie. Kein Richter musste sich den Fall anhören, keine Geschworenen mussten urteilen. Möglicherweise klagte man Kelly Courter an, aber nur, wenn er in die Welt der Lebenden zurückkehrte. Er befand sich in der Schwebe, wie sich alles andere in der Schwebe befand. Dies war der einzige Ausweg.
    Der schwarze Pick-up schlängelte sich vor ihm durch den dichten Verkehr, und Enrique folgte ihm. Ortíz war wie ein Polizist im Einsatz, ununterbrochen auf Patrouille, nie lange an einem Ort. Er besuchte Kasinos, Bordelle und Sporthallen und zog stets weiter, wie ein Hai. Es dauerte nicht lange, da durchschaute Enrique seinen Rhythmus, begriff das Muster zwischen Beute und Verfolger und hielt das Lenkrad mit entspannterem Griff. Wenigstens konnte er klar denken.
    Auf dem Sitz neben ihm vibrierte das Telefon. Er machte sich nicht die Mühe hinzusehen. Vor ihm bog der Wagen links ab. Enrique schaffte es gerade noch über die Ampel.
    Abermals wurde der Pick-up langsamer. Wieder vor dem großen, blitzblanken Fitnessclub. Enrique fuhr gemächlich an den Straßenrand und machte den Motor aus. Er kurbelte das Fenster herunter und ließ Licht, Hitze und Gerüche von der Straße hereinströmen.

FÜNF
    Sevilla empfand den Anzug als unbequem, weil er zu gut passte. Er war an die Eigenheiten seiner alten Kleidungsstücke gewöhnt, die knitterten und Falten schlugen, wo es keine geben sollte, und die angenehm weit an ihm hingen. Und da er den neuen Anzug auch noch nicht jahrelang getragen und gewaschen hatte, fehlte der heimelige Geruch abgetragener Kleidung. Er kam sich geckenhaft und albern vor, doch als er sich dem Oberkellner des Misión Guadalupe ohne Tischreservierung näherte und nicht gleich weggescheucht wurde, wusste er, dass der Anzug seinen Zweck erfüllte.
    »Ich hätte vorher angerufen«, versicherte Sevilla dem Oberkellner. »Aber ich war so beschäftigt.«
    »Gewiss,
Señor «
, antwortete der Oberkellner. »Wir können Ihnen einen Tisch anbieten. Es dauert nur ein paar Minuten. wünschen Sie etwas von der Bar, während Sie warten?«
    Sevilla leckte sich unbewusst die Lippen, verbarg es jedoch sofort hinter einem Husten. »Nein«, sagte er. »Nein, danke. Ich kann warten.«
    »Wie Sie wünschen.«
    Das Restaurant bot traditionelle mexikanische Gerichte im Stil der gehobenen Küche an. Beige Wände, helles Holz und Marmor drückten Eleganz aus; auf der Speisekarte standen Gerichte, die Sevilla sein Leben lang gegessen hatte, allerdings mit Variationen, die er nicht kannte. Die Ledersessel im Barbereich sahen eckig und modern aus, doch als Sevilla sich setzte, fand er sie unbequem. Wie er es sich gedacht hatte; alles nur schöner Schein, mit geringem praktischem Nutzen.
    Den Speisesaal dominierten drei gewaltige Säulen aus Alabaster. Sevilla sah die wie eine kostbare Statue beleuchtete Bar, deren Tresen aus demselben Stein bestand. Er bekam einen Tisch im hinteren Teil des Restaurants, für eine Person gedeckt. Auf dem Weg dorthin kam er an Madrigals Tisch vorbei.
    Rafa Madrigal saß mit vier weiteren Männern an einem großen, rundenTisch. Drei waren in seinem Alter: braungebrannte, löwenartige Gesichter, umrahmt von weißen Haaren. Der vierte war deutlich jünger, etwa Mitte zwanzig, und die Umgebung schien ihm nicht fremd zu sein. Ein Wald von Kristall und Silber umgab sie. Für solche Männer war die
comida corrida
keine Abfolge von Bauerngerichten, sondern Teller für Teller ein kulinarisches Kunstwerk. Als Sevilla sich setzte, sah er, wie eine Armada von Kellnern in schwarzen Hosen und engen schwarzen T-Shirts eine Batterie Teller abräumte und sie durch neue ersetzte.
    Er war nicht nahe genug dran, um mithören zu können, doch die Unterhaltung nahm kein Ende. Sevilla strengte sich an, damit er nicht zu oft in ihre Richtung blickte. Er zwang sich, die Speisekarte zu studieren.
    Als er bestellte, fühlte er sich wie ein Narr, ein Höhlenmensch, der sich als feiner Herr verkleidet hatte, doch sein Kellner schien das Zögern und die Unsicherheit nicht zu bemerken. Wenige Minuten später servierte man ihm eine aus
quesadillas
mit
huitlacoche
bestehende Vorspeise, die ganz vorzüglich schmeckte, obwohl Sevilla gedacht hätte, er wäre zu abgelenkt, um den Geschmack überhaupt zu bemerken. Er versuchte, nicht an die Preise zu denken.
    Von den fünfen an Madrigals Tisch kannte er nur diesen persönlich. Die anderen kamen ihm irgendwie bekannt vor, doch Sevilla ließ sich davon nicht

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