Die toten Frauen von Juárez
Grenze mache. Ich bin noch nie im Fort Alamo gewesen.«
»Da dürften Sie enttäuscht sein«, sagte Señor Hernández. »Es liegt mitten in der Stadt!«
Madrigal hatte seinen Kaffee längst ausgetrunken, der Tisch war so gut wie abgeräumt. Ein Kellner stellte so schnell und lautlos wie ein Geist eine Tasse vor Sevilla und huschte wieder davon. Die Männer in der Runde schienen niemanden außerhalb ihrer Gruppe wahrzunehmen; es schien,als gehörte das Restaurant ihnen allein, als würde alles wie durch Zauberei gebracht werden.
»Spielen Sie Golf?«, fragte Madrigal.
»Nicht gut, aber gern.«
Darüber mussten die Männer wieder lachen. Madrigal winkte ab. »Unwichtig. Wenn Sie Zeit haben, kommen Sie doch auf ein Spiel nach Los Campos. Wer weiß, wann Sie wieder einmal in der Stadt sind.«
Sevilla schaufelte mit einem winzigen Löffel Zucker in den Kaffee. Er betrachtete seine Hände wie aus weiter Ferne. Sie zitterten nicht. »Das ist zu freundlich von Ihnen, aber ich möchte mich keineswegs aufdrängen.«
»Sie drängen sich nicht auf. Wie wäre es mit Mittwochmorgen? Ich kann Sie nach dem Frühstück zum Tee einladen. Seien Sie mein Gast.«
Wieder tat Sevilla überdeutlich so, als müsste er nachdenken, obwohl er sich längst entschieden hatte. Er nahm sich die Zeit und trank einen Schluck Kaffee: heiß, stark und mit Lakritzgeschmack, wie Madrigal versprochen hatte. Sevilla fand ihn abscheulich. »Na gut«, sagte er. »Sie erreichen mich in meinem Hotel.«
»Wo wohnen Sie?«
»Hotel Lucerna.«
»Natürlich.«
»Ich gebe Ihnen die Durchwahl meines Zimmers«, sagte Sevilla so gleichgültig, wie er es fertigbrachte. So etwas kam jeden Tag vor. Mächtige, einflussreiche Männer waren seine Freunde. Ein Hotel wie das Lucerna bot das Minimum an Luxus. »Sie können mich jederzeit anrufen.«
»Dann sind wir uns einig.«
Danach trennten sich ihre Wege. Sevilla bezahlte die Rechnung bar, obwohl die anderen alle Kreditkarten benutzten. Niemand stellte ihm Fragen, obwohl er eine Erklärung parat gehabt hätte. Er sprach die Sprache der Reichen, zeigte keine Angst. Ihnen gefielen sein Anzug und die Sonnenbrille von Persol, die er vor dem Restaurant aufsetzte.
Der Oberkellner rief ein Taxi für Sevilla. Madrigal bestand darauf, mit ihm zu warten. Sevilla verabschiedete sich nacheinander von jedem Einzelnen,als ein Angestellter des Restaurants ihre Autos vorfuhr: Mercedes, BMW, Bentley. Sevilla war froh, als das Taxi endlich kam und er Madrigal die Hand schütteln und sich verabschieden konnte. Sebastián schüttelte er nicht die Hand.
SECHS
Enrique fuhr im Büro vorbei, um seine Nachrichten abzuhören und wenigstens den Eindruck zu erwecken, als würde er noch arbeiten. Er las alle E-Mails und beantwortete sie. Es war früher Nachmittag, die meisten Männer machten Pause. Garcia näherte sich dem Schreibtisch lautlos. Enrique bemerkte ihn erst, als sein Schatten auf ihn fiel.
»Wo zum Teufel sind Sie gewesen?«
Die Tür von Garcias Büro war geschlossen gewesen. Enrique war davon ausgegangen, dass sich Garcia in einer seiner langen Mittagspausen befand, die nicht selten bis zum Feierabend dauerten. Jetzt stand die Tür offen. »Captain«, sagte Enrique. Mehr fiel ihm nicht ein.
»Ich habe Sie angerufen«, sagte Garcia. Er hatte den Knopf einer Manschette geöffnet und den rechten Ärmel hochgekrempelt. Das machte er gern, wenn er stundenlang Kartenspiele im Internet spielte oder seine Zeit im Büro anders vergeudete. Enrique hatte den Mann noch nie einen Bericht verfassen oder eine E-Mail schreiben sehen.
»Tut mir leid. Ich musste mich um einige … familiäre Probleme kümmern. Mein Onkel ist krank. Ich erledige den Papierkram, bevor ich gehe.«
Garcia beugte sich über den Schreibtisch, bis Enrique die Reihe der Fenster hinter ihm nicht mehr sah. Er warf einen Blick auf Enriques Monitor. »Wollen Sie das allen weismachen? Dass Ihr Onkel krank ist?«
Enrique schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er, während er Ortíz gefolgt war, selbst nie in den Rückspiegel gesehen oder darauf geachtet hatte, wer hinter ihm auftauchte und wieder verschwand. Wenn Ortíz angehalten hatte, hatte Enrique sich nicht vergewissert, ob möglicherweise jemand nach Spionen Ausschau hielt. Enrique roch Garcia, und da erst fiel ihm das alles ein.
»Es ist wahr.«
»Wissen Sie, ich habe Sie nie gemocht«, sagte Garcia. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Sie machen Ihre Arbeit gut, aber ich spüre, wenn ein Mann nicht mit
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