Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Morgengrauen wurden am Monte della Libertà drei leblose Körper aufgefunden, massakriert mit einer Schusswaffe. Die Abteilung Kriminaltechnik der Polizei Bologna, unter der Leitung von Vizequestore Ernesto Sernagiotto, ist unverzüglich zur Beweissicherung herbeigeeilt, fand allerdings den Tatort bereits stark verunreinigt vor. Die Opfer sind ein Mann und eine Frau um die vierzig sowie ein kleines Mädchen im schulpflichtigen Alter. Das Auffinden der Leiche der Kleinen hat die friedliche Gemeinde Case Rosse zutiefst getroffen. »Wir sind erschüttert«, kommentierte Bürgermeister Luigi Raimondi. »Ich hoffe, die Justiz bringt schnell Licht in die Sache. Die Opfer sind nicht aus dem Dorf, und ich bin sicher, dass auch derjenige, der sie ermordet hat, es nicht ist. Case Rosse ist hier nur ohnmächtiger Zuschauer.« Ebenso äußert sich Salvatore Rende, freiwilliger Helfer des Roten Kreuzes. »Das Gesicht des Mädchens werde ich nicht mehr loswerden. Durch den Schuss ist ihr wortwörtlich das Gesicht weggerissen worden. Das kann keiner von hier gewesen sein, wir sind hier anständige Leute, ruhig und arbeitsam.« Alver Govoni, der Wirt des Dorfes, setzt hinzu: »Das war keiner di nòster (übersetzt: keiner von uns). Wir sind weniger als tausend Seelen hier, wir wissen alles von allen. Außer natürlich von den Afrikanern, die außerhalb des Dorfes wohnen. Es wäre besser gewesen, man hätte Vorkehrungen getroffen, bevor jemand seine Haut riskiert.« Ob Govoni recht hat, steht uns nicht zu zu beurteilen. Sicher ist allerdings, dass das Gefühl, dem er Ausdruck verleiht, von der Mehrheit der Einheimischen geteilt wird. Die einzige Stimme, die sich vom allgemeinen Tenor abhebt, ist jedoch eine sehr wichtige: Es handelt sich um Kommissar Roberto Serra (siehe Foto, Archivbild), der überzeugt davon ist, dass der dreifache Mord das Werk von Menschen aus dem Dorf ist. Jede Meinung hat ihre Berechtigung, aber wir hoffen doch, dass nicht wertvolle Zeit vergeudet wird, indem man falschen Spuren folgt: Case Rosse und seine Menschen müssen erleben, dass die Schuldigen hinter Schloss und Riegel gebracht werden, damit sie wieder ruhig schlafen können.
3
V oller Zorn wirft Roberto die Zeitung auf Manzinis Schreibtisch. Der Kollege ist um acht Uhr dreißig zum Dienst angetreten und sieht schrecklich mitgenommen aus.
Er hat Bondis selbstzufriedenes Grinsen vor Augen, mit dem er den Notizblock zugeklappt hat. Wenigstens hat er nicht die Fotos von den Leichen veröffentlicht, denkt er. Doch ansonsten hat er einfach gemacht, was er wollte.
Die Gazzetta di Modena widmet dem Fall kaum weniger Platz als dem Streit zwischen dem Präsidenten der Republik Oscar Luigi Scalfaro und dem zurückgetretenen Premier Silvio Berlusconi oder mehr als dem Artikel über den Eintritt Österreichs, Finnlands und Schwedens in die Europäische Union oder den Empfehlungen von Johannes Paul II. für das neue Jahr.
Welche Wirkung der Artikel auf die Leute von Case Rosse haben kann, hat Roberto schon deutlich in dem verächtlichen Blick der Zwillinge Santini gesehen, die das Kiosk-Schreibwaren-Buchladen-Buchbinderei-Geschäft an der Piazza führen, als sie ihm die Tageszeitung ausgehändigt haben.
Wenn sie mich anfangs nur für einen ed fóra gehalten haben, bin ich jetzt zum Paria geworden.
Seine Wut erreicht allmählich den kritischen Pegelstand. In diesem Zustand würde er es nicht schaffen, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Ich muss irgendwas tun, um mich wieder abzuregen.
»Ich geh laufen«, verkündet er. Er hat angefangen zu laufen, kaum dass er nach Case Rosse gezogen war, dem Rat eines Psychologen folgend: Die Endorphine, die der Organismus während des Laufens ausschüttet, würden ihm guttun. Wesentlich mehr jedenfalls als Psychopharmaka.
Er läuft täglich mindestens zehn Kilometer, wobei er auf den Straßen, die sich durch die Berge ziehen, und in der Anstrengung eine Art Frieden findet. Ein effektives Ventil, um Dampf abzulassen.
4
A uftreten, Schritt, einatmen. Auftreten, Schritt, ausatmen. Roberto verschlingt Nebel. Über dem weißen, schweißgetränkten Laufshirt der Polizei trägt er eine leuchtend gelbe Regenjacke, damit er in dem unwahrscheinlichen Fall, dass ihm ein Auto begegnen würde, gesehen wird. Je steiler die Straße sich den Berg hinaufwindet, desto schneller schlägt sein Herz, und er beginnt, sich wirklich leicht zu fühlen.
Nach acht schnellen Kilometern lichtet sich der Nebel zu einem dünnen Mantel über einer
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