Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
ließ ihn an etwas anderes denken als nur an die Arbeit. Daher war sie aufrichtig überrascht gewesen, als er nach dem Bruch Kontakt zu ihr aufgenommen hatte. Seither hatte eine raue Stimme sie hin und wieder angerufen. Eine unerträglich zudringliche Stimme, die darauf beharrte, dass sie, indem sie Roberto verlassen hatte, den größten Scheiß der Welt gebaut hatte, um es in seinen Worten auszudrücken. Beim letzten Mal, als sie voneinander gehört hatten, war Alice schon in Bologna. Und sie war nicht länger bereit, der Argumentation des Questore zu folgen. Sie hatte ihn angefahren. Was wusste er denn schon? Hatte er überhaupt eine Vorstellung davon, was es bedeutete, mit jemandem zusammenzuleben, der diesen hässlichen Makel hatte? Einem Menschen, der sich danach verzehrte, die Wahrheit herauszufinden, selbst auf Kosten seines eigenen Lebens und derer, die ihn umgaben?
Alice war sich sicher, dass Bernini Roberto verraten hatte, dass sie umgezogen war und die Fachrichtung gewechselt hatte. Und sie war auch überzeugt davon, dass Robertos Versetzung in ein Kommissariat, das nicht allzu weit von der Stadt entfernt lag, kein Zufall war.
Die Morgendämmerung bricht schon fast an, als sie endlich schläfrig wird, ohne auch nur irgendetwas geklärt zu haben.
»Silvia«, flüstert sie. Dann überwältigen sie Schlaf und Müdigkeit.
2. JANUAR 1995, MONTAG
UNTER DER OBERFLÄCHE
1
W ährend er sich rasiert, beobachtet Roberto im Spiegel die Spuren, die der erste schreckliche Tag des Jahres in seinem Gesicht hinterlassen hat. Und die schlimmsten sind nicht mal die, die man sieht. Er schaut auf die Uhr. Sieben Uhr fünfundvierzig. Er ist schon bei der dritten Tasse Espresso, es kommt nur selten vor, dass er es schafft, länger als vier Stunden am Stück zu schlafen, auch wenn er es nötig hätte.
Er fühlt sich deplatziert, gefangen und in eine Welt versetzt, die sich fundamental von der unterscheidet, die er sich so mühsam aufgebaut hat. Das Schrillen des Telefons bringt ihn in die Gegenwart zurück. Er läuft ins Schlafzimmer und nimmt den Hörer von dem Nebenapparat auf dem Nachttisch ab, in der absurden Hoffnung, Alices Stimme zur hören.
»Hört, hört, wir haben sie identifiziert!«, brüllt ihm Sernagiotto ins Ohr. Dann erklärt er in belehrendem Ton: »Nach meinem genialen Appell haben die Telefonzentralen der Questura, jedes Kommissariats, der Kasernen der Carabinieri und sogar der Feuerwehren und der Finanzpolizei geglüht vor Anrufen. Alles falsche Spuren, bis vor einer halben Stunde. Da hat hier eine Ausländerin angerufen, ich glaube, eine Philippinerin, aber diese Asiaten sehen ja schon alle gleich aus, und dann erst mal am Telefon. Zweimal die Woche arbeitet sie als Reinmachefrau in einer Villa am Colle della Guardia, außerhalb von Bologna. Sie tritt ihren Dienst um sieben an, aber heute Morgen fand sie die Haustür verschlossen. Und einen Schlüssel hatte sie nicht. ›Die Signoli sollten gesteln Abend‹ wieder aus einem Dorf im Apennin zurückkommen, an dessen Namen sie sich nicht erinnern konnte. Aber sie hat sich an den gut aussehenden Vizequestore erinnert, der im Fernsehen dazu aufgerufen hatte, alle verschwundenen Personen zu melden.«
»Ist sie glaubwürdig?«
»So glaubwürdig, dass ich schon eine Streife zu der Villa geschickt habe. Sie hat für eine dreiköpfige Familie gearbeitet: einen Mann namens Sergio, der mit einer Frau namens Elisa verheiratet ist. Sie hatten eine Tochter. Die magischen Worte. Schlauerweise habe ich ja in den Interviews die Namen nicht genannt, ich weiß nicht, ob du das bemerkt hast. Auch die Altersangaben, die sie genannt haben, passen. Jedenfalls genau genug, um sie für die Identifizierung in die Pathologie zu fahren. Wenn das positiv ausgehen sollte, informiere ich dich darüber, dass es die Familie Zanarini nicht mehr gibt.«
»Wie hieß das Mädchen?«
Sie sprechen in der Vergangenheitsform, weil es unmöglich ist, an eine zufällige Übereinstimmung zu glauben.
»Benedetta. Sie ging in die dritte Klasse der Grundschule.«
Benedetta, und doch wurdest du ermordet vor deinem zehnten Geburtstag. Was für ein absurdes Schicksal, denkt Roberto, an den reglosen kleinen Körper im Nebel gewandt.
2
Blutiger Jahresbeginn in Case Rosse
Kommissar Serra: »Der Mörder kommt aus dem Dorf«
Von unserem Korrespondenten Mattia Bondi – Die erste Nacht des Jahres im Weiler Case Rosse, einer Oase der Ruhe im Herzen des Apennins, ist mit Blut getränkt worden. Im
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