Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuliano Pasini
Vom Netzwerk:
Schnee versinkt. Er muss sich an dem kalten Stein festhalten. Er zittert.
    Auf der zum Monte della Libertà zeigenden Seite des Monolithen befindet sich ein schwarzes Marmorkreuz. Der senkrechte Balken trennt zwei lange Spalten mit Gravierungen. Auf der linken Seite ein Namensverzeichnis mit Namen und Altersangaben. Die Toten, die ich während des Tanzes gesehen habe. Ein Massaker.
    Auf der rechten Seite ein langes Gedicht.
    Frage nicht, Vorübergehender, wer wir waren,
    denn wir sind weniger als Nebel und Worte,
    Erdkrumen sind unsere Tränen,
    die in dünnen Rinnsalen aus Dampf versickern.
    Es keimen die Früchte des Grolls
    aus dem verfaulten Schoß der Erinnerung,
    in herber Blüte
    auf euren Feldern und euren Häusern.
    Nur dieses schwarze Leichentuch wärmt uns
    im faulen Eis unserer Nächte:
    Der schlaflose Zorn, der unser Herz verzehrt,
    Oh, Lebende, das ist die einzige Wärme,
    das ist für uns der Frieden, dies allein
    die Gerechtigkeit der Märtyrer.
    Diese Verse, hart und tief wie die Wurzeln der Kastanien, die den Horizont von allen Seiten umschließen, lassen in seiner Erinnerung die Litanei wieder erklingen, die der Mörder gemurmelt hat, bevor er die Zanarinis tötete.
    Das Datum des Massakers ist auf dem horizontalen Arm des Kreuzes eingraviert:
    ERSTER JANUAR 1945
    Vor Robertos Augen erscheinen die schwarzen Uniformen. Das Gesicht des Offiziers mit der Reitpeitsche. Ein Massaker, schließt er. Ein nazifaschistisches Massaker, das genau vor fünfzig Jahren am Monte della Libertà stattgefunden hat. Kann das Schicksal so einen Zufall konstruiert haben? Er korrigiert sich. Das Schicksal spielt hier keine Rolle. Es sind Menschen, die morden. Menschen wie ich. Wie die Opfer.
    Der Geruch der verrotteten Blumen ist beinahe verschwunden, obwohl er hinter dem Denkmal einen vertrockneten Strauß findet, erfroren. Chrysanthemen. Die Blumen der Toten. Und sie wurden nicht erst gestern oder heute für die Toten von 1995 hier abgelegt. Sie sind älter.
    Ein Windstoß, der heftiger ist als die anderen, drückt ihm die Regenjacke und das schweißgetränkte Hemd an die Haut. Mit immer sicherer werdenden Schritten geht er auf den Feldweg zu, der zu Guerzonis Haus führt. Er will sich selbst die Reifenspuren ansehen und die weiße Farbe an dem vorstehenden Ast, von dem Sernagiotto gesprochen hat.
    Am Abzweig des bergan führenden Wegs bleibt er stehen. Gestern stand hier der Traktor. Er erinnert sich an die Worte aus Manzinis Bericht. Guerzoni war um sechs Uhr aufgestanden. Er war in den Wald gegangen, um Holz zu sammeln. Er war zum Monte della Libertà gekommen. Hatte die Leichen gesehen. War nach Hause zurückgelaufen, um zu telefonieren. Er hatte alles zu Fuß gemacht. Warum hatte also der Traktor hier gestanden? Eine Unstimmigkeit. Eines jener Details, über die man nicht hinweggehen durfte.
    Es gibt nur einen Menschen, der Licht in diese Sache bringen kann. Der Feldweg verschwindet ein bisschen weiter oben. Guerzonis Haus ist nicht weit von hier. Roberto braucht eine Sekunde, um sich zu entscheiden.
    Als er beginnt, bergan zu steigen, hält er sich in der Mitte des unbefestigten Wegs und versucht, Spuren eines Fahrzeugs auszumachen, die sich von denen des Traktors unterscheiden. Nach mehr als der Hälfte des Anstiegs löst sich der Nebel auf, und die Suche wird angenehmer. Er findet sie an einem Platz, der frei von jeglichem Bewuchs ist, wo der Boden sich leicht absenkt. Ein großes Fahrzeug wie der kleine Landini von Guerzoni. Ein Geländewagen? Ein Lieferwagen?
    Etwas weiter streckt eine verkrüppelte Kastanie ihre Äste über den kleinen Weg. Ein Streifen aus weißem Lack, beinahe zwei Meter über der Erde, vermischt mit vielen anderen orangefarbenen Spuren. Und dennoch waren gestern hier keine weißen Lieferwagen. Eine Frage mehr an Guerzoni, wenn man bedenkt, dass es überhaupt keinen Beleg dafür gibt, dass diese Spuren von gestern sind.
    Gerade als er beginnen will, den letzten Abschnitt der Strecke zum Haus des Bauern etwas schneller zu laufen, lässt ihn eine Stimme in seinem Rücken erstarren.
    »Ziemlich leichtsinnig, sich so allein hier an diesem Ort des Todes herumzutreiben.«
    Er bleibt wie gelähmt stehen. Ich bin unbewaffnet. Allein. Ich suche einen Mörder, der keine Skrupel hatte, ein kleines Mädchen zu ermorden, indem er ihr in den Kopf geschossen hat. Er spürt das Gewicht einer realen Bedrohung im Nacken, zum Greifen nah. Bis das Klicken eines Fotoapparats und ein unbändiges Lachen die

Weitere Kostenlose Bücher