Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Wiesenfläche, auf der sich eine abgestorbene Eiche und ein Gedenkstein erheben. Keine Autos heute, niemand. Der Monte della Libertà ist eine eisige Wüste, umgeben von einem kahlen Kastanienwald.
Langsam geht er auf die Mitte der Fläche zu, begleitet nur vom Knistern des gefrorenen Grases und dem Flüstern des Windes. Schon nach den ersten Metern hatte er sehr genau gewusst, wohin seine Schritte ihn führen würden. Ich musste hierher zurückkehren. Gestern habe ich versucht, möglichst nichts zu empfinden. Keinerlei Bindungen aufzubauen. Heute hat sich das alles geändert. Lieber keine Zeit damit verlieren, darüber nachzudenken, ob das nun gut oder schlecht war. Er versucht empfänglich zu werden für jeden Eindruck, den der Ort ihm übermittelt.
Er duckt sich unter dem Absperrband mit der Aufschrift »Halt, Polizei«hindurch. Drei Umrisse, von der Kriminaltechnik mit roter, glänzender Farbe nachgesprüht, damit sie im Nebel besser zu sehen sind, verewigen die Position der Leichen.
Plötzlich füllt sich die morgendliche Luft mit dem Duft verrotteter Blumen. Nun weiß Roberto, woher das dringende Verlangen kam, das ihn hierher zurückgetrieben hat.
Seine Muskeln verspannen sich. Er beißt die Zähne zusammen. Seine Augen sind geschlossen, suchen nach einem Licht, das nur in seinem Inneren zu sehen ist. Wie am Vortag, wie viele andere Male. Der Unterschied heute besteht darin, dass Roberto sich nicht dagegen sträubt. Er will sehen. Er will verstehen.
Als er sich fast sicher ist, dass er wie ein trockener Ast zerbrechen wird, zieht sich die Energie, die ihn ergriffen hat, zurück. Seine Füße setzen sich allmählich auf einem großen Kreisbogen in Bewegung.
Der Tanz beginnt.
Roberto gibt es nicht mehr. Er sieht mit den Augen eines anderen Menschen.
Ich knie. Es liegt viel Schnee, aber ich trage nur leichte Kleidung, unpassend für diese Kälte. Frauenkleider.
Mir ist nicht kalt. Ich empfinde widerstreitende Gefühle. Liebe, stark und uneingeschränkt. Hass. Enttäuschung. Verständnis. Wut. Resignation. Ein Meer ergießt sich in mir. Ein Meer aus entgegengesetzten Strömungen.
Ich hebe die Augen und sehe einen Mann, der an einer großen Eiche aufgehängt wurde. Sein Gesicht ist verquollen, blutend. Die Beine, in einem unnatürlichen Winkel angezogen, sind auf aufgehäuften Heubunden abgestützt. Eigentlich müsste er längst tot sein, bei allem, was sie ihm angetan haben. Stattdessen schreit er. Sie wollten ihn zum Weinen bringen, wollten ihn brechen. Stattdessen schreit er und stößt wilde Drohungen aus.
Ich liebe ihn, und ich liebe das Kind, das ihn Papa nennt und neben mir kniet. Neunzehn Menschen knien im Schnee. Hinter jedem eine bewaffneter Soldat. Sie warten auf die Befehle eines Offiziers mit runder Brille und einer Reitpeitsche in der Hand.
Eine Hand hebt mein Gesicht an. Ein Lederhandschuh hält ein Messer. Ich kann mich nicht bewegen, meine Handgelenke sind gefesselt. Ein Mann in schwarzer Uniform schlitzt mir die Wange auf. Zwei Schnitte, schnell und präzise. Das Blut ergießt sich übers Gesicht. Ich klage nicht. Ich muss dieselbe Stärke zeigen wie mein Mann.
Überraschend trifft mich der Peitschenschlag des Offiziers, genau im selben Moment, wo der andere mich geschnitten hat. Der Knebel fällt heraus.
Ich würde gern schreien. Brüllen. Aber das Wasser dieses Meeres, das ich in mir trage, erstickt mich. Ich blicke den Mann an, den sie erhängen, und hoffe, er versteht.
Etwas explodiert. Die Schneedecke rast auf mich zu. Nein. Ich bin es, die zusammenbricht. Ich schaffe es nicht, die Augen zu schließen. Ich sehe, wie der Schädel meines Sohnes durch einen Gewehrschuss zerrissen wird. Der kleine Körper kippt gegen mich.
Roberto schreit mit aller Kraft seinen Schmerz hinaus über den Verlust des Mannes, den er liebt, und des Kindes. Er schreit, um den Albtraum zu verlassen und wieder in sich selbst zurückzukehren. Er findet sich neben der Eiche wieder, die er während des Tanzes vom Gewicht des Gehängten beschwert gesehen hatte.
Wer war er? Wer waren diese Leute, die da im Schnee knieten?
Er selbst ist auch auf Knien. Sein Körper ist ein einziges schmerzendes Bündel. Das Denkmal ragt über ihm empor. Zum ersten Mal sieht er mehr darin als nur einen Teil der Landschaft. Wie ein riesiger Grabstein scheint es über den drei roten Umrissen zu wachen.
Er sucht in sich nach den letzten Fünkchen Wärme und versucht, wieder aufzustehen, wobei er sich wundert, dass er nicht im
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