Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Alter erlaubt, eine Lesebrille hervor. Etwas weckt seine Aufmerksamkeit, denn er steht auf. Mit schnellen, kleinen Schritten trippelt er zum Bildschirm, bis er ihn beinahe mit der Nase berühren kann. Er sperrt den Mund auf und zeigt die wenigen noch verbliebenen Zähne.
»Den kenne ich«, sagt er. »Den kannten auch die Zanarinis.«
Roberto weigert sich, darüber nachzudenken, was diese Worte bedeuten. Jedenfalls für den Augenblick, aber ich werde es tun müssen.
»Meine Augen sind nicht mehr so gut wie früher«, fährt Don Gaspero fort, »aber ich würde schwören, dass es sich um den Mann handelt, der jeden Sommer gekommen ist, um in ihrem Haus zu arbeiten, hier am Ende der Straße. Er hat geweißelt, die Fensterläden lackiert, hat mal ein Rohr repariert, den Garten in Schuss gehalten. Das hätte jeder beliebige Einwohner von Zocca genauso machen können. Stattdessen tauchte er jedes Jahr auf. Er kam immer am Morgen und fuhr am Abend wieder nach Hause, immer in Eile.«
Roberto versinkt in seinem Stuhl. Da ist ja eine der fehlenden Verbindungen: Berto Guerzoni kannte die Opfer.
»Vielleicht wollte er sie bloß ausrauben, und dann ist die Sache eskaliert. Er musste das Geld dringend brauchen, sonst hätte er ja nicht diese Reise auf sich genommen, zwei Stunden von Case Rosse für solche Kleinigkeiten. Möge der Herr auch seiner Seele gnädig sein«, schließt Don Gaspero, wobei er sich rasch bekreuzigt, um danach sein Glas Wein auszutrinken.
Roberto stürzt seines in einem Zug herunter. Es kommt ihm vor, als würde er Galle trinken.
Bevor er den Heimweg einschlägt, will er noch das Haus sehen, in dem die Zanarinis regelmäßig den Sommer verbrachten. Wo sie ihn nun nicht mehr verbringen würden.
Es befindet sich am anderen Ende von Zoccas Hauptstraße, wie ihm Don Gaspero erklärt hat. Roberto nutzt die wenigen Minuten, die er braucht, um dorthin zu gelangen, für eine mentale Übung; das pure Gegenteil zu der, die er sonst immer gemacht hat: Statt den Himmel von Wolken freizufegen, bemüht er sich, eine Wolke in einen Himmel zu schieben, der ihm viel zu sauber erscheint.
Berto kannte die Zanarinis. Ein Punkt für Sernagiotto. Aber es fehlt noch das Motiv: Er kann sie nicht wegen des Geldes ermordet haben. Sie hatten eine halbe Million Lire in der Tasche. Den Killer interessierte ihre Identität, nicht das Geld.
Er trifft ein paar Leute, darunter der Mann, der auch bei der Trauerfeier war. Er grüßt ihn mit einem Kopfnicken, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Vor einem kleinen zweistöckigen Haus aus grauem Stein bleibt er stehen. Am schmiedeeisernen Tor und an der Tür kleben die Siegel der Polizei. Durch den kleinen Garten führt ein Pfad, der von einem Laubengang aus Wein überdeckt wird, der jetzt allerdings keine Blätter trägt.
Das ist es.
Die wenigen Bäume im Garten sind kahl, ebenso wie die Hortensien, die in die Erde gepflanzt sind. Roberto versucht, sich mühsam die Harmonie aus Weiß und Rosa in den warmen Monaten vorzustellen. Er merkt nicht, dass er den Atem anhält.
Berto Guerzoni hat sich mit seinen eigenen Händen darum gekümmert. Mit denselben Händen hat er möglicherweise den Abzug betätigt und die ganze Familie ausgelöscht.
Es gibt keine Klingel. Wer hier wohnte, wollte keinen Besuch empfangen. Die Läden sind offen, das Innere der Zimmer wird nur von einfachen weißen Vorhängen geschützt. An einem Fenster sind sie rosa, dekoriert mit großen, bunten, lustigen Figuren.
Benedettas Zimmer . Er stellt sich das Mädchen vor, wie es sich in sein Bett kuschelt, unter einer Decke, die ebenso fröhliche Motive aufweist. Melancholie überkommt ihn.
Ich kann diesen Ort nicht mehr ertragen. Diesen ganzen Fall . Er geht zum Auto zurück. Im tiefsten Inneren weigert er sich, der beharrlichen Stimme zuzuhören, die ihm zuflüstert, dass ja im Grunde nichts dabei wäre, wenn auch er den Fall als abgeschlossen betrachten würde.
5
M anzini steht in der Tür des Kommissariats. Er hält die Arme vor der Brust verschränkt, und auf seinem Gesicht liegt ein ungewöhnliches halbherziges Lächeln. Es passt nicht zu Robertos Stimmung, der nur trocken fragt: »Was gibt’s?«
Das Lächeln reduziert sich auf ein Viertel. »Alice hat angerufen … also, Dottoressa Capelveneri. Dreimal.« Er hält ihm einen Zettel hin, auf dem seine ordentliche Schrift zu sehen ist. »Das sind ihre Nummern. Sie hat gesagt, dass sie zurückgerufen werden will, sobald du wieder hereinkommst.«
Roberto bleibt auf
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