Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
zugeschwollenen Gesicht. Um seinen Hals eine Schlinge aus Eisendraht. Und Benedettas Hände waren auch mit etwas Kaltem und Hartem hinter dem Rücken zusammengebunden. Wieder Eisendraht.
Er zwingt sich, Don Gaspero zuzuhören.
»Zanarini stand die ganze Zeit daneben und hat zugesehen, wie ich das Sakrament der Beichte erteilt habe. Er hat mich gehindert, irgendeinen anderen Trost zu spenden, nicht einmal die Tränen zu trocknen. Ich werde niemals die Augen dieses Mannes vergessen. Sie waren leer, es sah aus, als berührte ihn die Gewalt überhaupt nicht.«
Ein dicklicher Offizier, der die im Schnee kniende Frau mit der Peitsche ins Gesicht schlägt.
»Der Herr hat uns die Möglichkeit gegeben zu wählen, und wir wählen oft das Böse.« Mit schmerzhaft knackenden Gelenken steht er auf und geht zu dem großen Bücherregal. Nach kurzem Suchen zieht er einen Band heraus. Mit dem Ärmel wischt er den Staub weg und hält ihn Roberto hin.
» Die Wölfe kommen. Was für ein seltsamer Titel.«
»Das war es, was die Leute gesagt haben, wenn sie den Henker kommen sahen, umringt von seinen Spießgesellen. Es berichtet von einigen Vorkommnissen während der Resistenza. Mit großer Objektivität, muss ich sagen. Denn auch die Partisanen beschränkten sich ja nicht aufs Zusehen, wissen Sie. Nur dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, auch wenn ich aus dem Abstand von fünfzig Jahren immer noch nicht weiß, wer eigentlich wirklich gewonnen hat.« Er füllt das Glas bis zum Rand. »Ich schenke es Ihnen. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie an einigen Stellen Unterstreichungen und Kommentare finden«, sagt Don Gaspero. »Alte Leute, die sehr viel mehr Zeit hinter sich haben als vor sich, meinen ja immer, sie müssten ihre eigene Version zu allem liefern.«
Roberto wiegt es in der Hand, als wollte er abschätzen, wie viele Schrecken es enthalten könnte. Von der hinteren Umschlagseite lächelt der Autor, Virgilio Adrovandi, der als Professor für Zeitgeschichte an der Universität Bologna vorgestellt wird.
»Was ist aus Enrico Zanarini geworden?«
Der Alte schüttelt kaum merklich den Kopf. »Man weiß es nicht. Es gibt Leute, die sagen, er sei nach Deutschland geflohen oder nach Südamerika. In dem Durcheinander, das nach dem Ende des Krieges herrschte, hat er offensichtlich seine Spuren sehr geschickt verwischt. Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich um ihre eigenen Trümmer zu kümmern, als an ihn zu denken. Ganz sicher hat er aber keinen Fuß mehr in diese Gegend gesetzt. Was auch angebracht war, würde ich sagen, angesichts der Behandlung, die die Partisanen den ehemaligen faschistischen Amtsträgern zukommen ließen.«
Der alte Priester setzt sich wieder, es wirkt beschwerlich. »Und da die Wege des Herrn so unerforschlich sind, klopft eines Tages der Sohn des Henkers an meine Tür, mit der ganzen Familie.«
»Warum ist er denn ausgerechnet nach Zocca gekommen?«
»Wer weiß das schon? Vielleicht wollte er sehen, wo seine Eltern aufgewachsen sind? Vielleicht dachte er, niemand würde ihn erkennen? Ganz sicher war das, was er mit diesem Ort verbunden hat, besonders stark, sonst wäre er weggeblieben.«
»Was hat er beruflich gemacht?«
»Ich glaube nicht, dass er gearbeitet hat. Es heißt, der Vater habe wie viele Nazis und Faschisten ein Vermögen mitgenommen, als er untergetaucht ist. Wenn ich kein Mann der Kirche wäre, würde ich sagen, dass es unvermeidlich war, dass dieses Geld verflucht war.«
»Ist denn sicher, dass hier in Zocca außer Ihnen niemand weiß, wessen Sohn Sergio Zanarini war?«
»Die Sicherheit ist unserem Herrn vorbehalten, aber ich denke nicht. Die meisten wissen ja mit Mühe und Not gerade mal, dass es die Familie überhaupt gegeben hat. Sie haben seit fünfzehn Jahren jeden Sommer hier im Ort verbracht, sind aber für sich und allein geblieben. Vielleicht hatte Sergio Angst, dass die Schuld des Vaters doch auf die Nachkommen zurückschlagen könnte.«
Ein Schlag in den Magen. »Und wenn das passiert wäre?«
Der alte Priester zeigt mit einem knotigen Finger auf den unsichtbaren Himmel jenseits der Zimmerdecke. Schweigen senkt sich herab. Roberto sieht zum Fernseher hinüber. In den Nachrichten werden Bilder von Sernagiotto gesendet, triumphierend vor einem gut gefüllten Saal. Plötzlich wird bildschirmfüllend ein relativ aktuelles Foto von Berto Guerzoni eingeblendet.
»Das ist der angebliche Mörder«, sagte er.
Der Priester zieht so schnell, wie es ihm sein
Weitere Kostenlose Bücher