Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
der Schwelle stehen. Er unterdrückt sein Verlangen danach, ihre Stimme zu hören, und zeigt auf sein Büro. »Ich schließe mich da ein. Ich brauche absolute Ruhe. Stell niemanden durch außer Bernini.«
Die Botschaft ist klar: auch nicht Alice. Manzini ist nicht einverstanden, man sieht es an seinem Gesicht. »Sie wollte ziemlich dringend mit dir sprechen«, informiert er ihn.
»Ich hingegen will ziemlich dringend mit Salvatore Rende sprechen. Persönlich. So bald wie möglich. Hör dich mal um, wo er ist.«
Die karge und geordnete Umgebung des Büros gibt ihm Sicherheit, ja fast Geborgenheit. Er zieht den Telefonstecker aus der Wand und vertieft sich in die Ereignisse, die während der letzten Monate eines Krieges, dessen Ende bereits feststand, die Linea Gotica , die Gotenstellung,von Ligurien bis zur Romagna mit Blut getränkt haben. Nach wenigen Zeilen merkt er, dass der Stil von Professor Aldrovandi nicht dem lächelnden Gesicht auf dem Umschlagfoto entspricht. Er ist trocken und belehrend. Aseptisch, auch während er die grausamsten Metzeleien beschreibt, so zahlreich und grausam, dass das »Blutbad vom Prato Grande«, wie er es nennt, kaum zwei der mehr als vierhundert Seiten des Bandes in Anspruch nimmt.
Der Ursprung war der am häufigsten vorkommende: eine Vergeltungsmaßnahme für die Ermordung zweier Soldaten durch eine Brigade Partisanen. Vierzig Personen wurden aus ihren Häusern geholt, die doppelte Anzahl derjenigen, die später exekutiert werden würde, denn zur Vergeltung gehörte auch der Terror.
Die Worte laufen rasch, fast als führten sie ein Eigenleben.
Nur zwanzig wurden zum Prato Grande geschafft, um dort am ersten Tag des letzten Kriegsjahres getötet zu werden. Neunzehn wurden auf die Knie gezwungen, geknebelt und durch einen Schuss in den Nacken getötet. Einem war ein anderes Schicksal beschieden. Francesco Ferri wurde an einer großen Eiche aufgehängt, neben der sich heute ein Mahnmal aus grauem Stein erhebt, das an das Geschehen erinnert.
Das habe ich also gesehen! In sich spürt er die Liebe lebendig werden, die die Frau für ihren Mann und ihr Kind empfunden hatte, bevor sie ermordet worden war.
Francesco Ferri stammte aus Case Rosse. Unter dem Kampfnamen Sfregio hatte er eine Gruppe junger Leute um sich geschart, zum größten Teil Deserteure oder nach dem Sturz des Faschismus und dem Waffenstillstand von 1943 Versprengte.
Aldrovandi erzählt, wie Ferri eine Partisanenbewegung unter dem seltsamen Namen »Brigade Ypsilon« ins Leben gerufen hatte, die weder der Brigade Garibaldi noch der Brigade Stella Rossa noch irgendeiner anderen der wichtigsten Brigaden der Region angegliedert war. »Er hatte eigene Ideale, die er nicht in den Dienst anderer stellen wollte«, schließt Aldrovandi. Es war tatsächlich ein Überfall der Brigade Ypsilon, der zum Tod von zwei Soldaten der nazifaschistischen Armee führte. Und die Vergeltungsmassaker auslöste.
Mit der Durchführung der Säuberungsaktion und der darauf folgenden Exekutionen beauftragt war Enrico Zanarini, einer der wenigen italienischen SS -Angehörigen, dem das deutsche Kommando die polizeilichen Aufgaben und die Aufrechterhaltung der Ordnung im Gebiet um Case Rosse übertragen hatte, das durch seine Lage an der Kreuzung zweier Täler als strategisch bedeutsam galt. Zanarini ging in die örtliche Geschichtsschreibung unter dem Namen »der Henker des Apennins« ein, woraus sich ahnen lässt, welche Folgen diese Entscheidung gehabt hatte. Der ideale Mann, um den Alliierten nur verbrannte Erde und Leichenberge übrig zu lassen, wie es Feldmarschall Kesselring, der Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte in unserem Land, befohlen hatte.
Obwohl nicht präzisiert wird, ob bei der Hinrichtung Franceso Ferris Eisendraht eingesetzt wurde, wie man ihn zum Binden von Heubunden verwendet, würde Roberto darauf wetten. Der Erzählung Don Gasperos zufolge bediente sich der Henker dieses Materials. Das bestätigt Aldrovandis Schilderung der Massaker in Ciano di Zocca.
Roberto folgt der Blutspur, die sich über den Rücken des Apennins und seine benachbarten Täler gezogen hatte, die zu einem lang gezogenen Schlachtfeld, einer ständigen Front geworden waren. Ein Schauplatz von zahlreichen Exekutionen von Zivilisten und Militärs.
Er arbeitet sich durch die Massaker von Sant’Anna di Stazzema, Ca’ Berna, Ronchidoso, La Bettola, Monchio, Susano e Costrignano, Padule di Fucecchio … Namen, die noch nie zuvor auf den Landkarten
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