Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
das Motiv. Der für den Mord von 1995 bleibt leer, in den für 1945 schreibt er DIE WÖLFE KOMMEN und zeichnet es noch einmal nach.
6
E s klingelt, während Roberto die Treppe hinuntergeht. »Ich öffne«, informiert er Manzini. In dem bleiernen Licht erkennt er kaum den kleinen Umriss, der aus demselben Nebel gemacht zu sein scheint, der die Piazza einhüllt.
»Alver hat mir gesagt, dass Sie mich sehen wollen«, sagt Argìa. Sie tritt gebeugt mit furchtsamen Schritten ein. Ihr Kopf ruckt hin und her, während sie den Flur absucht. Hier stimmt irgendwas nicht.
In der Tat, nachdem sie in seinem Büro Platz genommen hat, bricht sie in ihrem starken Dialekt in eine ganze Serie abwiegelnder »Ich weiß nicht«, »Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, was es mal war«, »Ich meinte was anderes« aus.
Sieht aus, als hätte ihr jemand Angst gemacht. Roberto stellt seinen Stuhl neben den der Alten und nimmt die faltigen und mit Altersflecken überzogenen Hände. Er blickt ihr tief in die Augen, die vom grauen Star getrübt sind und vielleicht auch von zurückgehaltenen Tränen.
»Wer hat dich dazu gedrängt, mir diese Dinge zu sagen? Oder besser, nichts zu sagen?«
Sie weicht zurück. Wendet den Blick ab und zieht die Hände zurück. »Niemand, ehrlich.« Immer wieder blickt sie sich um.
Er versucht, ihr Sicherheit zu geben. »Du hast nichts zu befürchten. Hier bist du sicher.«
» Comisàri, man ist nirgendwo in Sicherheit«, gibt sie mit kaum hörbarer Stimme zurück. Dann seufzt sie. »Geben Sie sich mit dem Schuldigen zufrieden, den Sie haben. Wenn alle sagen, dass es Berto war, dann werden sie schon recht haben. Sie sind keiner von hier. Lassen Sie sich nicht von der Schlechtigkeit der Menschen hier anstecken. Vergessen Sie.«
Roberto schüttelt den Kopf. »Ich muss bis auf den Grund gelangen. Ich habe Angst, dass das hier noch nicht zu Ende ist und dass noch mehr Schreckliches passieren könnte. Und ich brauche deine Hilfe, um das zu verhindern. Wenn etwas dir Angst macht, brauchst du nichts zu sagen. Mir reicht ein Kopfnicken, ein Ja oder ein Nein. Tu es für die kleine Benedetta. Erinnerst du dich noch an Alver, als er ihr Alter hatte? Wie hättest du dich gefühlt, wenn du ihn so aufgefunden hättest wie dieses kleine Mädchen?«
Zwei schwere Tränen quellen aus den trüben Augen der Greisin. Sie zieht ein Stofftaschentuch heraus, um sie zu trocknen, dann behält sie es im Schoß und knetet es. Sie schließt die Augen und bleibt für mehr als eine Minute unbeweglich sitzen. Ohne sie wieder zu öffnen, macht sie eine zustimmende Kopfbewegung.
»Danke«, murmelt Roberto. Er formuliert die erste Frage: »Gestern Abend hast du mir gesagt, dass du am 1. Januar 1945 am Monte della Libertà warst. Warst du bei den Hinrichtungen dabei?«
Die Frau stöhnt. Sie bewegt den Kopf. Ja.
»Willst du darüber sprechen?«
Argìa kneift die Augen noch fester zu. Unter den Lidern treten neue Tränen hervor. Eine entschiedenere Kopfbewegung. Nein.
»1945 war in Case Rosse ein deutsches Kommando stationiert. Das Dorf war geteilt. Einige unterstützten die Deutschen, andere die Alliierten. Und die Partisanen.«
Das ist keine Frage, Argìa nickt dennoch. Ja.
»War die Mutter des Bürgermeisters ein Kurier der Partisanen?«
Ja.
»Und gestern Abend hast du gesagt, Berto Guerzoni sei ein Deutscher gewesen.«
Ja.
»War Salvatore Rende 1945 auch schon in Case Rosse?«
Ein Zusammenzucken, dann kommt die Antwort. Ja.
»Auf welcher Seite stand er?« Die Frage kann nicht mit einem Nicken oder einem Kopfschütteln beantwortet werden. Dennoch gibt es keinen Grund, sie umzuformulieren. Argìa reißt wuterfüllt die Augen auf.
»Deutsch!«
Roberto verarbeitet diese Information im Hinblick auf das Treffen. Er sieht sie scharf an.
»Ist es möglich, dass heute jemand im Namen dessen, was 1945 geschehen ist, mordet?«
Die Falten am Hals ziehen sich zusammen und auseinander. Ein Ja ohne jede Unsicherheit.
»War es Berto?«
Nach einem langen Schweigen fängt die Frau an, den Kopf zu bewegen, doch bevor die Bewegung eindeutig wird, streckt sie eine Hand aus. Sie streichelt Robertos Gesicht. Ihre Hand ist rau und warm, es ist die Hand eines Menschen mit einer guten Seele, deren Schale rau geworden ist durch das, was ihr das Leben gebracht hat.
»Ich sag Ihnen was. Sie tun gut daran, Angst zu haben, dass noch was Scheußliches passieren kann. Aber denken Sie nicht nur an die anderen. Achten Sie auch auf sich, comisàri.
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