Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
hübsch parfümierte Signorina war mit einem anderen Einsatz beschäftigt. Ich bin schon lange als Freiwilliger im Dienst, ich weiß, wie man Erste Hilfe leistet. Ich bin allein hingefahren, über Silvester waren wir nur zu viert. Die Leute amüsieren sich lieber, als sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Ein Freiwilliger war mit der Signorina unterwegs, mein Sohn musste auf der Wache bleiben.«
»Was hast du am Monte della Libertà getan?«
Er bekreuzigt sich mit seinen schaufelgroßen Händen. »Ich habe die Leichen gesehen und gewusst, dass die keine Behandlung mehr brauchten.«
»Wo war Berto?«
»Zu Hause. Ich bin hingefahren, um zu sehen, wie es ihm geht, am Telefon war er außer sich.«
Das erklärt den weißen Streifen an der Kastanie und die Reifenspuren.
»Also stand der Traktor da noch nicht an der Einmündung des Feldwegs, wo ich ihn gefunden habe, sonst wärst du mit dem Krankenwagen nicht durchgekommen.«
Das Licht in Rendes dunklen Augen verändert sich. Vielleicht dämmert ihm, dass die Lage ernster ist, als er geglaubt hat. »Sie sind gut, commissà, lassen Sie sich das sagen. Der Traktor stand in der Remise.«
»Wo war Guerzoni?«
»Der hing schon wieder an der Flasche. Lallte nur noch.«
»Und du hast ihm nicht zufällig gesagt, dass diese Leichen direkt vor seinem Haus ihn in Schwierigkeiten bringen könnten? Und dass es eine gute Idee sein könnte, sie woanders hinzulegen?«
»Sehen Sie, commissà, ich hatte doch recht: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.«
Roberto schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. Er denkt an den Satz, den Argìa zum Abschied gesagt hatte.
»Guerzoni war der Teufel! Du weißt, was er während des Krieges getan hat!«
Der andere reagiert mit der gleichen Härte. »Berto war eine Mücke, kein Teufel. Ein Wesen, das niemand wahrnimmt und das, wenn es sich nähert, auf übelste Weise davongejagt wird. Oder einfach zerquetscht. Er hat für seine Sünden gebüßt, immer vorausgesetzt, dass er überhaupt welche auf sich geladen hatte. Er war weder ein Dämon noch ein Engel, nur einer von vielen, die keine Wahl hatten.«
»Hast du ihn während des Krieges schon gekannt? War er einer deiner Kameraden?«
»Ganz genau.«
»Folglich war dein Befehlshaber Enrico Zanarini, der Henker des Apennins.«
Ein tiefer Schatten verdunkelt Rendes Blick. »Ein Sadist, der es genossen hat, zu töten und, noch viel mehr, zu foltern. Er hat gut daran getan, die Beine in die Hand zu nehmen, bevor der Krieg zu Ende war. Die Leute hätten sich drum geschlagen, ihn wegzuputzen.«
»Du und Guerzoni, ihr seid dagegen hiergeblieben. Seltsam. Vor allem, weil er geschossen hat, während du den Briefträger gespielt hast.«
Rende breitet die Arme aus. »Nach dem Krieg lagen auf den Friedhöfen nicht nur die begraben, die erschossen worden waren, sondern auch die, die sich geweigert haben zu schießen. Die Leute wissen das. Berto hatte keinen anderen Ort, wohin er hätte gehen können. Seine Strafe waren Einsamkeit und Isolation. Wenn er getötet worden wäre, hätte er weniger gelitten, lassen Sie sich das gesagt sein.«
»Und du? Warum bist du hierhergezogen?«
Die schwarzen Augen starren in den Nebel vor dem Fenster. »Es gibt eine Redensart in meiner Heimat: Weihnachten haben wir mit einem Rotkehlchen gefeiert. Ich hab den Schnabel und die Flügel bekommen, mein Kamerad die Krallen. Sie wären auch abgehauen, wenn Sie bei Ragusa auf dem Land als Letzter von acht Söhnen geboren worden wären.«
»Aber warum ausgerechnet Case Rosse?«
»Das müssen Sie den fragen, der mich nach Case Rosse geschickt hat. Kaum war dieser verfluchte Krieg zu Ende, hab ich meine Siebensachen in einen Sack gepackt. Nichts hat mich mehr hier gehalten, und doch hab ich die Abreise von Tag zu Tag aufgeschoben. Am Ende hab ich den Sack wieder ausgepackt, und nach fünfzig Jahren bin ich immer noch hier. Ich hab Arbeit gefunden, und es ging mir nicht schlecht. Meine Söhne sind in Case Rosse geboren. Der Ort hier, mit seiner Gemächlichkeit und dem Geräusch des Windes in den Kastanien, der lullt dich ein, und im selben Augenblick fickt er dich. Dieses Kaff hier ist ein Strudel. Ein Strudel, der dich nach unten bis auf den Grund zieht. Schwer, da wieder rauszukommen. Das müssten Sie ja nur zu gut wissen, der Sie jetzt auch schon vier Jahre hier sind.«
Ein Strudel. Roberto weiß nicht, was er darauf antworten soll. »Dir ist schon klar, dass deine Lage ernst ist? Berto hat dich
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