Die toten Mädchen von Villette
hatten wir vor, aber dann mußte sie mit Bernadette und Wurst-Bert zur Einweihung von Berts neuem Laden in Ostende. Das Wurstimperium wächst offensichtlich immer weiter, und das Geld strömt herein. Bernadette muß glücklich sein.
Wie gewöhnlich war Martine irritiert über Philippes Art, über seine Exfrau und ihren neuen Mann zu reden. Aber sie biß sich auf die Zunge und sagte nichts. Sie hatte mit ihrem Bruder über wichtigere Dinge zu reden. Es fiel ihr nur so schwer, die Worte über die Lippen zu bringen.
Philippe Poirot schielte zu seiner Schwester. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, ein sicheres Zeichen dafür, daß sie an etwas dachte, das sie nicht sagen wollte oder nicht zu sagen wagte. Er ahnte trotzdem, worum es ging. Martine wollte über ihre Mutter Renée reden und darüber, was sie im Krieg erlebt hatte. Renée hatte zwei Jahre im Konzentrationslager Ravensbrück gesessen. Martine hatte bis vor kurzem nichts davon gewußt.
Philippe dagegen hatte Erinnerungen, traumartigformlose Erinnerungsbilder aus einer Zeit, als er sehr klein war, Erinnerungen an Tage mit zugezogenen Gardinen und Renées Tränen und gedämpften Stimmen im Schlafzimmer der Eltern, während er draußen stand und nicht hereinkommen und seine Maman festhalten durfte, obwohl sie so traurig war. Damals hatte er das Wort »Ravensbrück« gehört. Es fiel heraus, schwarz und schwefelgelb mit seinen harten, fremden Lauten, und er hatte begriffen, daß die Tatsache, daß seine Maman nicht sie selbst war, damit zu tun hatte. »Dummes Ravensbrück« hatte er einmal eifrig zu seinem Vater gesagt. Aber der hatte ernst gesagt: »Darüber reden wir nicht, Maman wird dann nur traurig.« »Ravensbrück« war das gefährliche Wort, das nicht ausgesprochen werden durfte, ein Tabu so effektiv, daß seiner kleinen Schwester nie auch nur das geringste Flüstern über die Kriegserlebnisse der Mutter zu Ohren gekommen war. Tage mit zugezogenen Gardinen hatte es trotzdem gegeben, schwarze und schwefelgelbe Tage, an denen alle mit leisen Stimmen sprachen und ängstlich zur geschlossenen Schlafzimmertür schielten.
Martine hatte nicht gewußt, was den dunklen Schatten über ihr Elternhaus warf, nicht die leiseste Ahnung davon gehabt, bis vor ein paar Monaten, als ein Verwandter es beiläufig erwähnt hatte. Jetzt war sie fast besessen davon, mehr zu erfahren. Thomas, ihr Mann, hatte Philippe erzählt, daß sie die ganze Zeit daran dachte, Bücher über Ravensbrück suchte, Artikel über Übergriffe an muslimischen Frauen in Konzentrationslagern in Bosnien verschlang und darüber nachgrübelte, wie sie die ganze Wahrheit darüber, was Renée erlebt hatte, erfahren konnte.
Philippe gefiel das nicht. Seiner Auffassung nach war es das beste, die Vergangenheit nicht aufzurühren. Es rißunnötigerweise alte Wunden auf und konnte sogar gefährlich sein.
Martine sah aus, als würde sie gleich etwas sagen, aber bevor sie den Mund aufmachen konnte, kam Tony Deblauwe aus seinem Büro und steuerte auf sie zu.
– Telefon für dich, Martine, sagte er, du kannst es im Büro annehmen.
Martine stöhnte.
– Da geht mein Abendessen flöten, sagte sie und ging hinter die Theke.
Tony drückte eine Tasse Espresso aus der Maschine und ging auf Philippe zu.
– Ich habe für euch den runden Tisch in der Nische reserviert, sagte er, der ist doch nicht zu groß für euch, selbst wenn Martine ausrücken muß? Ich meine, für dich und Thomas und deine Catherine?
– Und Thomas’ Schwester, sagte Philippe, die schöne Sophie Lind.
Tony stellte seine Kaffeetasse ab und starrte ihn an.
– Sophie Lind? Hast du Sophie Lind gesagt? Sag nicht, daß du die Sophie Lind meinst, die jahrelang das Objekt der verschwitzten erotischen Träume meiner Jugend war?
– Doch, das kann schon sein, sagte Philippe, sie ist jedenfalls Schauspielerin.
– Mein Gott, sagte Tony nostalgisch, ich war fünfzehn, als ihr erster Film kam, ich glaub, ich hab mich da fünfmal reingeschummelt, um die Szene zu sehen, wo sie im Gegenlicht badet. Und du sagst, sie ist Martines Schwägerin? Und wird hier zu Abend essen? Warum hat mir das keiner vorher gesagt? Ich hab all ihre Filme auf Video, und »Blanche von Namur« kann ich praktisch auswendig.
Philippe brach in Lachen aus.
– Dann mußt du wohl zum Angriff übergehen, sagte er, ich glaube, sie hat zur Zeit keine feste Herrengesellschaft.
Tony trank mit nachdenklicher Miene seinen Kaffee aus. Er hatte die Ärmel seines blauen Hemds
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