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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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zeigen, dachte sie zufrieden.
    – So, Mademoiselle, sagte der Taxifahrer. Hier ist es. Ich darf leider nicht auf den Platz fahren, er ist aufgrund des Konzerts heute abend für den Autoverkehr gesperrt. Aber Sie müssen nur über die Brücke gehen, dann sind Sie da. Oder brauchen Sie Hilfe mit der Reisetasche?
    – Nein, nein, die ist nicht so schwer, sagte Tatia. Sie bezahlte schnell für die Fahrt und stieg aus dem Taxi. Nach drei Stunden in stickigen Eisenbahnwaggons war es schön,im Freien zu sein. Die späte Nachmittagssonne brannte wie eine Schweißflamme, aber vom Fluß kam eine angenehme Brise, die den weiten Rock ihres Kleides um ihre Beine flattern ließ. Auf der Brücke, die zur Kathedralinsel Île St. Jean führte, waren mitten im Gedränge Ritter, römische Soldaten und orientalische Tänzerinnen zu sehen. Tatia studierte neugierig ihre Verkleidungen. Es war schade, daß sie die Prozession verpaßt hatte, eine Theaterdesignerin, die sie bewunderte, hatte dieses Jahr die Kostüme für Herodes, Herodias und Salome gemacht, und sie hätte sie gern gesehen.
    An der Straßenecke direkt hinter dem Brückenkopf sah sie jetzt das Restaurant, wo sie Philippe und die anderen treffen sollte. Aber es machte so viel Spaß, herumzulaufen und die Leute anzugucken, daß sie eine extra Runde auf dem Platz vor der Kathedrale machte, obwohl sie die Reisetasche zu schleppen hatte.
    Sie war auf dem Weg zurück zur Blinden Gerechtigkeit, als sie plötzlich eine unerklärliche Unruhe erfüllte. Die Muskeln in ihrem Nacken zogen sich zusammen, und die Haare auf ihren Armen richteten sich auf. Sie fühlte sich auf dem großen Platz ungeschützt, ausgesetzt wie ein Hasenjunges auf einem offenen Feld, wenn es den gelben Blick des Habichts hoch oben in den Wolken ahnt. Ich bilde es mir sicher nur ein, dachte sie. Aber sie faßte die Reisetasche mit der anderen Hand und beschleunigte ihre Schritte zum Restaurant hin.

    Thomas Héger öffnete eine Flasche Mineralwasser und saugte die Flüssigkeit in gierigen Schlucken direkt aus der Flasche ein. Jean-Pierre Santini sah ihn verständnisvoll an.
    – Uns bleibt hier an der Grande Place jedenfalls der Geruch von Kamelmist im Sonnenuntergang erspart, sagteSantini, kommunaler Stratege und Chef der Bürgermeisterkanzlei im Rathaus von Villette. Er schnitt eine Grimasse, steckte die Finger in den Kragen seines blauweißgestreiften Hemdes und fächelte sich mit dem Papierbündel, das er in der Hand hielt, träge Luft zu.
    Es war warm im Raum, und die Luft stand still. Nicht einmal die vierhundertjährigen Steinmauern des Rathauses konnten die Nachmittagshitze aussperren, die in zitternden Wellen vom Steinpflaster draußen auf dem Platz aufstieg.
    Aus dem Raum neben Santinis war durch die halb offene Tür ein schweres asthmatisches Röcheln zu hören, aber die drei Personen, die eingesunken auf den elfenbeinweißen Ledersofas des Kanzleichefs saßen, vermieden es sorgfältig, sich anmerken zu lassen, daß sie etwas gehört hatten.
    – Dann machen wir hier vielleicht einen Punkt, sagte Santini, wir haben das Programm für den Empfang morgen ja fertig. Annalisa sagt zuerst ein paar Worte, und dann halten Sie, Professor Héger, einen Vortrag über Villettes frühe Geschichte und den Hintergrund zur Johannisprozession. Machen Sie es kurz, höchstens eine Viertelstunde. Das heißt, nein, sagen wir, zehn Minuten. Wenn es so warm ist, kann keiner länger zuhören.
    Er schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein und leerte es in einem Zug. Thomas betrachtete nachdenklich den Mann, den er vor weniger als drei Monaten am Rand eines mittelalterlichen Massengrabes kennengelernt hatte. Er hatte seit diesem Tag viel von Jean-Pierre Santini gesehen, beinah zu viel, fand er allmählich. Das kommunale Kulturprojekt hing ihm inzwischen zum Hals heraus. Er war widerwillig darauf eingegangen, sich als eine Art historischer Berater für die Prozession des Jahres heranziehen zu lassen, er begriff immer noch nicht ganz, warum. Möglicherweise triebihn der unbewußte Wunsch, die Stadt für das schlechte Renommee zu entschädigen, das seine Frau Martine Villette durch ihre Morduntersuchung im April unabsichtlich verschafft hatte. Er schielte zu dem Stapel Broschüren, der auf dem Tisch lag. Dickes, blankes Papier, kostspieliger Vierfarbendruck – er fragte sich, wieviel es gekostet hatte, den ganzen Abschnitt über hervorragende Kulturpersönlichkeiten von Villette noch einmal zu drucken.
    Thomas’ Schwester Sophie

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