Die toten Mädchen von Villette
insgeheim, daß es ihr nicht gelungen war, das Licht und die Bewegung in Sabrinas Flut von Haaren so einzufangen, wie sie es wollte.
Sie hatte auch viele Versuche gemacht, die Johannisprozession auf dem Weg über die Brücke mit der Kathedrale im Hintergrund zu malen. Das gelungenste ihrer Aquarelle hing gerahmt in der Schule, aber nicht einmal mit dem war sie zufrieden. Sie wollte die Gefühle einfangen, die sie überkamen, wenn sie die Prozession sah, und das war etwas ganzanderes, als die geflochtenen Mähnen der Pferde und die Falten in den Mänteln der römischen Soldaten so hinzukriegen, daß sie echt aussahen. Ihr Lieblingsbild war Eva Lidelius’ Gemälde »Die neue Anbetung des Lammes«. Sie hatte am ganzen Körper gezittert, als sie es zum ersten Mal in einem Buch gesehen hatte. Eines Tages würde sie selbst ein Bild malen, das die Menschen ebensosehr berührte …
Nein, das würde sie nicht. Ohne Vorwarnung war Nadia plötzlich von einer lähmenden Furcht, kalt und schwarz wie eisiges Wasser, und einer unheimlichen Gewißheit, daß sich ihre Träume nie verwirklichen würden, erfüllt. Sie sah den Tod in der Prozession vor sich, den schwarzen Mantel, den grinsenden Totenschädel, die scharfgeschliffene Sense. Ihre Lippen fühlten sich starr an und ihre Fingerspitzen kalt wie Eis, als hätte das Herz aufgehört, das Blut im Körper herumzupumpen.
Das Gefühl dauerte nur ein paar Sekunden, ging ebenso schnell vorbei, wie es gekommen war. Peggy und Sabrina hatten nichts bemerkt.
Erneut war in der Ferne ein Automotor zu hören. Aber dieses Auto bremste ab und hielt an, als es neben ihnen war. Die Autotür wurde geöffnet, und eine Stimme, die sie wiedererkannten, sagte einladend:
– Wollt ihr mitfahren, Mädels?
KAPITEL 3
Freitag, 24. Juni 1994
Villette
Noch war niemand tot, aber Martine Poirot war auf das Schlimmste gefaßt. Am Tag der Johannisprozession, dem höchsten Festtag der Stadt, wollte in Villette keiner den Job des diensthabenden Untersuchungsrichters übernehmen. Die Stadt war voller Touristen, jede Bar vollbesetzt, und das Gedränge auf den Straßen war so dicht, daß es kaum ein Durchkommen gab. Die Bilanz des Vorjahres waren drei schwere Raubüberfälle, zwei Vergewaltigungen und eine Messerstecherei mit tödlichem Ausgang. Martine hatte mit etwas Ähnlichem gerechnet, als sie die Niete des Jahres zog. Aber bis jetzt war es ruhig gewesen. Mit etwas Glück würde sie zu Abend essen können, ohne an einen Tatort gerufen zu werden.
Sie schlug die Akte zu, an der sie gearbeitet hatte, und legte die Mappe auf einen der vielen Papierhaufen des Schreibtisches zurück. Sie sah sich im Dienstzimmer um. Das Sonnenlicht, das durch halb geschlossene Jalousien hereinsickerte, beleuchtete unbarmherzig die Flecken auf dem Nadelfilzteppich, die abgeschabten Aktenschränke und die Ringe, die unzählige Kaffeebecher auf Martines Schreibtisch und dem ihrer Rechtspflegerin Julie Wastia hinterlassen hatten.
Sie ging zum Spiegel, der neben den Aktenschränken hing. Wie gewöhnlich war ihre Hochsteckfrisur in sich zusammengefallen. Sie zog die Haarnadeln heraus und bürstete ihre schulterlangen aschblonden Haare, während siekritisch ihr Gesicht im Spiegel musterte. Sie hatte im Laufe des Frühjahrs abgenommen. Die lange Hose saß locker in der Taille, und die Wangenknochen sahen unter den grünen Augen spitz aus. Ein Mordfall, den sie im April untersucht hatte, hatte mit einem politischen Skandal geendet, der nationale und selbst internationale Aufmerksamkeit erregt hatte, und das war nicht nur angenehm gewesen. Sicher hatte es ihr gefallen, ihr eigenes Bild in den Medien zu sehen, sogar mehr, als sie sich eigentlich anmerken lassen wollte. In der untersten Schreibtischschublade, verborgen unter ihrem Reservevorrat an Strumpfhosen und Monatshygieneartikeln, lag die Illustrierte, die das allerbeste Bild auf der Titelseite hatte. Manchmal nahm sie sie heraus und betrachtete heimlich ihr Porträt.
Aber nicht alle Schlagzeilen waren so wohlwollend gewesen.
Außerdem war sie bei vielen Honoratioren in Villette unpopulär geworden. Sie meinte giftige Blicke im Nacken zu spüren und ahnte jedesmal wenn sie sich in der Stadt unter Politikern bewegte, manchmal sogar unter Kollegen im Justizpalast, gehässiges Flüstern.
Und hinzu kamen private Probleme, über die sie ständig nachgrübeln mußte.
Sie schloß den Schreibtisch ab, nahm ihre Tasche und machte sich auf den Weg, um zu Abend zu essen. Feuchte Hitze
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