Die toten Mädchen von Villette
legte sich wie eine nasse Decke auf die Haut, als sie auf die Straße hinaustrat. Düfte und Geräusche aus der Stadt drangen in die enge Rue des Chanoines, der Geruch von Fritierfett von Pommes- und Waffelständen, schwache Öldämpfe, der scharfe Geruch nach Stall, der sich von den Pferden und Kamelen der Prozession gehalten hatte, Lachen und Johlen. Auf dem Platz vor der Kathedrale spieltejemand auf quietschenden mittelalterlichen Instrumenten. Von den Klubs am Quai des Marchands jenseits des Flusses kam Musik, vibrierende Baßrhythmen, die eher im Körper zu spüren als zu hören waren.
Martine war den ganzen Tag im Büro gewesen. Sie hatte nur eine Pause gemacht, um auf dem Hof des Justizpalastes gegenüber Saint Jean Baptiste, der Kathedrale, die den Namen Johannes des Täufers trug, zuzusehen, wie sich die Prozession auf dem Kathedralplatz versammelte.
Die Johannisprozession in Villette-sur-Meuse wurde zum ersten Mal in einem Dokument von 1299 erwähnt, was sie älter machte als die Heiliges-Blut-Prozession von Brügge, etwas, worauf keine Touristenbroschüre über Villette hinzuweisen versäumte. Dieses Jahr hatte Villette seinen Versuch, europäische Kulturhauptstadt 1999 zu werden, gerade rechtzeitig zum siebenhundertjährigen Jubiläum der Prozession lanciert, und die Veranstalter hatten sich mit Tänzern der Oper, Musikern aus den besten Orchestern Belgiens und mehr Kamelen und Pferden als je zuvor selbst übertroffen. Das Event sollte mit einem großen Gratiskonzert auf dem Kathedralplatz und einem Festfeuerwerk auf dem Fluß beendet werden.
All das, dachte Martine zynisch, weil ein Straßenverkäufer in Jerusalem vor fast tausend Jahren dem Kreuzritter Raimunt de Verney einen rostroten Metallsplitter aufgeschwatzt hatte, der, so hatte er behauptet, von dem Schwert stammte, mit dem Johannes der Täufer geköpft worden und der mit des Propheten eigenem Blut befleckt war. Dennoch war es schwer, sich von der Stimmung nicht mitreißen zu lassen, als die Reliquie in ihrem juwelenbesetzten Schrein unter Glockenläuten und liturgischem Gesang durch das Mitteltor der Kathedrale herausgetragen wurde und die Prozession sich in Bewegung setzte.
Eine Busladung europäischer Journalisten war aus Brüssel eingetroffen, um an der Prozession, einem Empfang im Rathaus, dem Gratiskonzert und am Samstag an der Pressekonferenz über Villettes unschlagbare Vorzüge als Kulturstadt teilzunehmen. Martine hatte gehört, daß das Interesse der Medien groß war, aber sie hatte den Verdacht, daß das auch mit der weniger schmeichelhaften Aufmerksamkeit zu tun hatte, die die Stadt aufgrund ihrer Morduntersuchung genoß.
Martine überquerte die Straße auf die Blinde Gerechtigkeit zu, die Kneipe ihres Freundes Tony Deblauwe Ecke Rue des Chanoines und Rue du Palais. Die Tür zur Straße stand offen, und die Bar füllte sich gerade, aber im Restaurantteil waren alle Tische noch leer, obwohl viele aussahen, als seien sie reserviert. Es war zu früh, um zu Abend zu essen, es sei denn, man hatte das Pech, diensthabender Untersuchungsrichter zu sein.
Ihr Bruder Philippe saß schon an der Bar, eine Tasse Kaffee vor sich. Sie schielte verstohlen zu ihm hin. Es war drei Jahre her, daß er zuletzt in Villette gewesen war. Da war er in schlechter Verfassung gewesen und hatte dringend Geld gebraucht. Jetzt aber schien es ihm gutzugehen, und sein cremeweißes Leinensakko sah teuer aus.
Sie kletterte auf den Barhocker neben Philippe und registrierte amüsiert die neidischen Blicke aller anderen Frauen im Lokal, als er sie auf die Wange küßte. Sah man denn nicht, daß sie Geschwister waren? Obwohl Philippe dunkel war und Martine blond, fanden die meisten, daß die Familienähnlichkeit offensichtlich war. Aber während Martine nur durchschnittlich hübsch war, war Philippe immer umwerfend gewesen. Die Leute drehten sich auf der Straße nach ihm um und fragten sich, in welchem Film sie ihn gesehen hatten.
– Hallo, sagte Martine, hast du dein Treffen mit Tony schon hinter dir? Was habt ihr eigentlich zusammen ausgeheckt?
Philippes Blick bekam etwas Ausweichendes.
– Ach, ich hab eine kleine Idee, ein Geschäftsprojekt, über das Tony und ich schon eine Weile reden, wir mußten etwas Papierkrieg erledigen. Jetzt warte ich auf Tatia, sie müßte bald hier sein.
– Tatia kommt, wie nett, sagte Martine und ließ das »Geschäftsprojekt« durchgehen, aber warum seid ihr nicht zusammen gekommen?
Philippe runzelte die Stirn.
– Das
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