Die toten Mädchen von Villette
hochgekrempelt, so daß die Tätowierungen auf seinen kräftigen Unterarmen zu sehen waren. Philippe fragte sich einen Augenblick, wie Sophie auf seinen Freund, den bekehrten Tresorsprenger, der inzwischen ein wohlhabender Restaurantbesitzer war, reagieren würde. Er erinnerte sich, wie es war, als er Tony das erste Mal getroffen hatte. Er war vierzehn gewesen und Tony ein paar Jahre älter, ein junger Einbrecher mit verwickeltem Hintergrund und haushohen Ergebnissen bei allen Intelligenztests. Philippes Vater, der Polizeikommissar, hatte sich für den begabten Jungen eingesetzt und ihn kühn in seine eigene Familie aufgenommen. Für Philippe war Tony wie eine romantische und gefährliche Gestalt aus den Büchern von Jean Genet gewesen, die er heimlich las. Wider Erwarten waren sie Freunde geworden, als Tony begriffen hatte, daß der schöne, wohlgeratene Sohn des Kommissars sich im Grunde ebenso ausgestoßen und außenseiterhaft fühlte wie er selbst. Und die Freundschaft hatte Bestand gehabt.
Martine kam aus dem Büro. Sie lächelte und hielt den Daumen hoch.
– Keine Gefahr, sagte sie, das war nur meine Rechtspflegerin, sie hat angerufen, um mir zu sagen, wo ich sie während des Essens erreichen kann. Ich hoffe, Thomas und Sophie und Tatia kommen jetzt bald.
Tatia nahm vom Bahnhof aus ein Taxi. Nach einer langen, stickigen Zugfahrt mit dreimal Umsteigen fand sie, sie hatte es verdient. Und das Geldbündel, das ihr Bernadette indie Hand gedrückt hatte, als sie sich schließlich von der Ladeneinweihung davonstahl, würde für viele Taxifahrten reichen.
Das Gedränge auf den Straßen wurde dichter, je näher sie der Altstadt von Villette kamen, und schließlich kroch das Taxi im Schneckentempo zwischen lärmenden Scharen von Menschen in Karnevalkostümen vorwärts. Ein paarmal mußte der Fahrer anhalten, um Pferde und Kamele, die über die Straße geführt wurden, vorbeizulassen.
– Kamele, Kamele, brummelte er, bedaure, Mademoiselle, am Johannistag kommt man hier in Villette immer schwer vorwärts. Aber jetzt sind wir bald da.
Tatia nahm einen Taschenspiegel aus ihrer kleinen, abgenutzten Schlangenlederhandtasche und studierte ihr Gesicht. Sie trug ein diskretes Make-up, die Lippen ungeschminkt, und hatte die roten Haare zu einer Zopffrisur aufgesteckt, mit der sie sich wie eine verirrte Statistin aus »Sound of Music« vorkam. Sie erkannte sich kaum wieder. Aber Bert und Bernadette waren bei der Einweihung des neuen Ladens in Ostende mit ihrer sittsamen Erscheinung fast peinlich zufrieden gewesen. Sie war mit einem Tablett herumgegangen und hatte Geschmacksproben der Käse von Berts neuem Käselieferanten angeboten und sich sogar Margeriten in die Zöpfe gesteckt. Das war der Preis dafür, daß sie allein nach Villette zurückfahren durfte.
Das Taxi stand wieder. Sie nutzte die Gelegenheit, um ihre Lippen mit einem purpurfarbenen Lippenstift anzumalen, der in der Familie von Trapp nie akzeptiert worden wäre. Und sie war zumindest mit dem Kleid zufrieden, das sie anhatte, ein cremefarbenes Voilekleid im Vierziger-Jahre-Stil mit kleinen schwarzen Punkten und einem schwarzen Samtband in der Taille. Es stammte aus dem Koffer,den sie von Denise van Espen bekommen hatte, die phantastischste Schatztruhe, die sie je gesehen hatte.
Denise hatte Tatia auch geholfen, das Geheimnis des Fotos zu lüften, das sie zunächst so schockiert hatte. Als sie an jenem Samstag zum Laden zurückkam, hatte Tatia wie ein verängstigtes Kind mit dem Foto in der Hand dagesessen und es angestarrt, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Aber Denise hatte ruhig und logisch alles aufgeklärt. Die Kleider hatten einer Frau gehört, die in Uccle gelebt hatte, und Tatias Großmutter Renée hatte schon als junges Mädchen in Uccle gewohnt. Es mußte ganz einfach Renée sein auf dem Bild, und das Kleid, in dem Tatia das Foto gefunden hatte, hatte einer Jugendfreundin ihrer Großmutter gehört.
Das war es also mit diesem Geheimnis. Aber jedesmal wenn Tatia das Bild herausnahm und es ansah, wunderte sie sich darüber, daß ihre Großmutter einmal so jung und fröhlich gewesen war. Renée war sehr lieb gewesen, zumindest zu Tatia, aber immer so ernst, als trage sie an einer geheimen Trauer. Die beiden Mädchen auf dem Bild dagegen lachten so sorglos in die Kamera, als wären sie sicher, daß ihnen nie etwas Böses zustoßen würde.
Tatia hatte das Foto jetzt in der Handtasche bei sich. Es würde lustig werden, es Philippe und Martine zu
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