Die toten Mädchen von Villette
niemand.
– Oh, ich war ein leidenschaftlicher Bewunderer, ich habe alle ihre Filme gesehen, sagte er. Wußtest du, daß Audrey Hepburn in Brüssel geboren wurde, in der Rue Keyenveld in Ixelles?
Er nahm ein Päckchen Zigaretten aus der Brusttasche seines blauen Hemdes, hielt es Julie hin, die dankend ablehnte, und zündete sich selbst eine Zigarette an.
– Dein Cousin ist jedenfalls frei, sagte er, das muß eine Erleichterung sein.
– Hast du das Neueste nicht gehört, sagte Julie bitter, er liegt mit Gehirnerschütterung und gebrochenen Rippen im Krankenhaus, zehn anständige Einwohner von Villette sind am Markt über ihn hergefallen. Und Martine ist wegen Befangenheit angezeigt worden, weil sie mit mir auf der Place de la Cathédrale eine Tasse Kaffee getrunken hat, während Jean-Pierre in Haft war. Es war natürlich dumm von mir, das vorzuschlagen, rate mal, ob ich mir Vorwürfe gemacht habe.
– Weißt du, ob die bei der Untersuchung Fortschritte machen? fragte Dominic.
Sie schüttelte den Kopf.
– Im Moment weiß ich nicht mehr, als in der Zeitung steht, ich halte mich fern von allem und allen, die mit dem Palast zu tun haben, um Martine nicht noch mehr Probleme zu machen. Und am liebsten würde ich mich von meiner Familie fernhalten, ich bin ziemlich sauer auf Jean-Pierre, während ich mir gleichzeitig Sorgen um ihn mache. Er hat wirklich sein Bestes getan, um die Typen, die über ihn hergefallen sind, zu provozieren, ganz umsonst, nehme ich an, denn die hätten ihn sowieso angegriffen.
Dominic nahm die Zigarette aus dem Mund und wandte ihr das Gesicht zu.
– Du mußt weg von Villette, sagte er, was sagst du zu einem Urlaub in Rom? Zusammen mit mir? Ich kann ja noch nicht so gut gehen, aber wir könnten eine Vespa mieten und herumfahren wie Audrey Hepburn und Gregory Peck.
Sie nahm die Sonnenbrille ab und starrte ihn verblüfft an.
– Nach Rom, mit dir, oh, Dominic, das klingt … Ich weiß nicht, was ich sagen soll!
– Sag ja, schlug er vor. Wir könnten natürlich Einzelzimmer nehmen, wenn du willst.
Sie brach in Lachen aus.
– Das klingt nach einem unnötigen Kostenfaktor, aber ja, Dominic, natürlich will ich mit dir nach Rom fahren!
Er ließ die Zigarette ins Wasser fallen, griff mit einer Hand nach dem Stock und nahm mit der anderen Julies Arm.
– Dann, finde ich, setzen wir uns hin und fangen an, unsere Reise zu planen, da hinten ist eine Bank.
Sie ließen sich auf der lehnenlosen Bank nieder, die in Richtung Fluß mit dem Quai des Marchands auf der anderen Seite stand. Hinter der Bank prunkte ein Rhododendrongebüsch mit hellroten und gelben Blüten. Ein hoffnungsvoller Stadtgärtner in den achtziger Jahren war zu dem Schluß gekommen, daß Rhododendron in der mageren und sauren Erde des Galgenbergs gedeihen würde, und er hatte tatsächlich recht gehabt.
Julie lehnte sich an Dominic. Er legte den Arm um ihre Schultern. Sie nahm den Stock, der zwischen ihnen stand, weg, um näher an ihn heranzurücken.
Etwas hielt dagegen, als sie den Stock zwischen die Bank und den Rhododendronbusch stellen wollte, etwas Steifes, das nicht nachgeben wollte, aber dennoch unangenehm, unheilverkündend weich war. Julie hatte viele Tote gesehen, und ihr Magen und ihre Nerven identifizierten das, was im Rhododendrongebüsch lag, noch bevor der Gedanke ihr Gehirn erreicht hatte. Ich darf nicht kotzen, dachte sie, das kann ein Tatort sein, und ich darf absolut nicht darauf kotzen, es ist das A und O, nicht zu kotzen.
Dominic sah verwundert ihr plötzlich grünbleiches Gesicht und ihre schweißige Stirn an.
Sie stand mit zitternden Beinen auf und schob die blühenden Rhododendronäste zur Seite.
Es war ein junger Mann, der dort lag, halb im Gebüsch und halb unter der Bank, ein junger Mann mit goldbraunen Haaren und hochgeschlossener brauner Jacke. Seine hellbraunen Augen waren offen, und dunkle Flecken wurden in der Hornhaut sichtbar.
In seinem Gesichtsausdruck lag Erstaunen. Der Tod war hier auf dem Galgenberg in Villette offenbar unerwartet zu ihm gekommen.
KAPITEL 10
Mittwoch, 29. Juni 1994
Villette & Brüssel
Tatia war früh aufgestanden. Martine lag im Bett und hörte sie im Gästezimmer herumhantieren. Es klang, als ob sie gerade das Bügelbrett aufklappte. Sie sang dabei, eine melancholische Melodie, die Tatias junge Stimme mit Jubel erfüllte.
An der Tür war ein vorsichtiges Klopfen zu hören, und Tatia schaute herein.
– Hast du eine Sprühflasche, flüsterte sie, oder ein
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