Die toten Mädchen von Villette
trat einen Stein ins Wasser. Sie war allein im Park, genau wie sie gehofft hatte. Die meisten Menschen in Villette irritierten sie zur Zeit. Sie war geschockt über all das, was passiert war, nachdem ihr Cousin festgenommen worden war. Sie hatte ihr ganzes Leben dem Versuch gewidmet zu beweisen, daß sie nicht war wie der Rest ihrer zweifelhaften Familie, und sie hatte geglaubt, daß es ihr gelungen war, daß sie akzeptiert war. Aber als sie die zerschlagenen Scheiben und die Haßbotschaften an den Wänden bei ihrem Onkel gesehen hatte und als sie Jean-Pierre zusammengeschlagen auf dem Trottoir hatte liegen sehen, war sie von Furcht und Trauer erfüllt, schwer und erstickend wie Blei im Blutkreislauf. Hieß man Wastia, war man immer verdächtig. Da spielte es keine Rolle, daß Julie Wastia Rechtspflegerin am Justizpalast war, respektierte Assistentin einer bekannten Untersuchungsrichterin. Es ist genau, wie Maman gesagt hat, dachte sie. Ich heiße Wastia, und in dieser Stadt werde ich nie etwas anderes sein als Josette Wastias uneheliches Kind.
Alles, was ihre Großmutter ihr erzählt hatte, als sie klein war, kam zurück – die schreckliche Nacht im Krieg, als die Deutschen kamen, um sie zu holen, und sie sich im Wald versteckten, die noch schlimmeren Tage nach dem Krieg, als Bernard und Marie als verdächtigte Kollaborateure in ein Lager verschleppt und Bruno und Jerry ihnen weggenommen worden waren.
Wie sie schließlich aus den deutschen Lagern herausgekommen waren, wußte sie nicht, aber sie nahm an, daß ihr Großvater jemanden bestochen hatte. Das tat er regelmäßig. Aber wie die Großeltern nach dem Krieg von den falschen Anklagen freigesprochen worden waren, hatte sie viele Male gehört. Marie Wastia war es nie müde geworden, von dem jungen Militärankläger zu erzählen, der schnell zu dem Ergebnis gekommen war, daß nur Gerüchte und böswilliger Klatsch hinter den Anklagen steckten, und dafür sorgte, daß sie aus dem Lager freigelassen wurden.
Die Gerechtigkeit hatte damals funktioniert, dachte Julie. Brunos zynische Spekulationen wollte sie sich nicht einmal anhören. Nein, in einer Zeit des Chaos und der Unsicherheit hatten die Kriegsgerichte einen anständigen Job gemacht, die Schuldigen bestraft und die Unschuldigen befreit. Und sie hatte auch jetzt funktioniert. Ebenso wie Jan Heyse damals ihre Großeltern befreit hatte, hatte Martine Poirot ihren Cousin freigelassen, nicht weil sie und Julie Freunde waren, sondern weil die Gerechtigkeit ihren Gang gehen sollte.
Dennoch stand Julie hier allein auf Villettes altem Galgenberg mit dunkler Sonnenbrille und einem Kopftuch um die Haare. Sie kehrte dem Wasser den Rücken zu und sah die zwei Türme der Kathedrale im Schattenriß vor dem Himmel. Wüßte gern, wie viele meiner Vorväter hier hingerichtet worden sind, dachte sie. Die Kathedrale muß das letzte gewesen sein, was sie gesehen haben.
Es gab aber zumindest einen Menschen, den sie sehen wollte, und jetzt sah sie ihn auf dem linken der beiden schmalen Pfade kommen, die von der Stadtmauer aus durch den Park bis zum Aussichtsplatz führten. Er ging nach dem Verkehrsunfall, den er hinter sich hatte, immer noch mitStock, aber als er sie sah, hob er den Stock und winkte ihr damit munter zu. Seine Zähne leuchteten weiß in dem sonnenverbrannten Gesicht, als er lächelte.
– Bald komme ich ohne Stock aus, sagte er stolz, als er sie erreichte, und im September kann ich wieder arbeiten, sagen die Ärzte. Es geht vorwärts, sage ich dir!
Er küßte sie auf beide Wangen, dann machte er einen Schritt rückwärts und betrachtete sie.
– Du siehst aus wie Audrey Hepburn in »Ein Herz und eine Krone« mit diesem Schal und der Sonnenbrille. Warum schleichst du herum, als Audrey Hepburn verkleidet, und warum sollten wir uns ausgerechnet am Galgenberg treffen?
Sie zog die Mundwinkel hoch, ein Lächeln, das ihre Augen hinter der dunklen Sonnenbrille nicht erreichte.
– Ich will inkognito sein, genau wie die Prinzessin im Film, aber nicht, um mich vor Bewunderern zu schützen, sondern umgekehrt. Ich wußte nicht, daß du Audrey-Hepburn-Fan bist?
Domenico di Bartolo lehnte sorgfältig den Stock an das Geländer des Aussichtsplatzes, stellte sich mit den Armen auf dem Geländer neben Julie und sah über den Fluß, der im Sonnenlicht glitzerte. Sie standen so dicht nebeneinander, daß ihre Ellenbogen sich berührten. Sie schwärmte schon lange für Domenico di Bartolo , aber das wußte außer ihr
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