Die toten Mädchen von Villette
Bügeltuch?
Martine sah auf die Uhr. Es war erst viertel vor sechs. Neben ihr schlief Thomas immer noch tief, aber seine Augen bewegten sich unter den geschlossenen Lidern, und er sah aus, als ob er lächelte. Sie hoffte, daß sie es war, von der er träumte.
– Du kannst doch ein Küchenhandtuch nehmen, flüsterte sie zurück, nimm eines aus dem Wäscheschrank, eines von den abgenutzten.
Sie blieb liegen und wälzte sich im Bett, nachdem Tatia vorsichtig die Tür hinter sich zugezogen hatte. Es gab keine Chance, daß sie jetzt wieder würde einschlafen können. Sobald sie die Augen aufgeschlagen hatte, hatte das Gehirn begonnen, mit Hochdruck zu arbeiten, und das Adrenalin strömte durch ihre Adern. Das Sonnenlicht, das zwischen den zugezogenen Gardinen hereinsickerte, hatte nur eine Botschaft an sie – ein neuer Tag mit einer neuen Möglichkeit, die Morde an Nadia, Peggy und Sabrina zu lösen, vielleicht ihre letzte.
Sie spürte, daß sie dabei waren, das Netz um den Mörder zuzuziehen, eine fast physische Überzeugung, daß sie ihm jetzt sehr nahe waren. Es war, als trete man in einen Raum, den jemand gerade verlassen hatte, eine Präsenz, die sich im Duft eines Rasierwassers, der Wärme im Stuhl, von dem jemand gerade aufgestanden war, dem noch feuchten Abdruck einer Hand auf einer Tischplatte hielt. Jemand in ihrer Nähe war dem Mann, den sie suchten, begegnet, hatte seine Stimme gehört, sich seine Worte gemerkt. Sie war sich dessen absolut sicher.
Christian hatte die Journalisten, die er in Brüssel getroffen hatte, ausgefragt, was direkt vor und nach der Prozession im Hotel passiert war. Mit Nigel Richards und Francesco Marinelli war er schon fertig gewesen, als er von der Flasche Champagner hörte, und so mußte er zu ihnen zurückgehen. Marinelli hatte über das plötzliche Interesse der Polizei an seiner verschwundenen Flasche Champagner etwas erstaunt gewirkt.
Dann hatten Martine, Agnes, Annick und Christian bis spät am Abend zusammengesessen und überlegt, wer die Flasche gestohlen haben konnte. Aber es war unmöglich, auf diesem Weg dahinterzukommen, und schließlich hatte sich Martine entschlossen, eine kleine Rekonstruktion im Hotel selbst vorzunehmen.
Ihr gefielen Rekonstruktionen. Sie ergaben fast immer etwas Neues. Sie dachte ernsthaft darüber nach, eine Rekonstruktion der Ereignisse auf dem Platz am Mordtag direkt nach der Prozession zu organisieren, aber das würde eher an die Inszenierung einer Wagner-Oper erinnern, nichts, was man im Handumdrehen erledigen konnte.
Die Suche nach dem Auto, das Jean-Pierre Wastia gesehen hatte, hatte noch kein Ergebnis gebracht. Keiner derJournalisten auf Martines Liste hatte einen BMW oder Mercedes vom richtigen Typ. Francesco Marinelli und Nigel Richards hatten laut Zulassungsstelle überhaupt kein Auto, was merkwürdig war, weil Christian beide über ihre Parkprobleme hatte sprechen hören. Aber offenbar war es üblich, daß Ausländer ganz ungesetzlich mit Autos fuhren, die in ihren Heimatländern registriert waren, um sich die teure belgische Autoversicherung zu sparen.
Martine schwang die Beine über die Bettkante und setzte sich auf. Sie konnte genausogut aufstehen, wenn sie sowieso wach war. Sie ging ins Badezimmer und nahm eine lange, heiße Dusche. Aber nicht einmal warmes Wasser und lavendelduftender Schaum brachten ihr Entspannung. Sie war viel zu geladen.
Sie wickelte sich ein Handtuch um die feuchten Haare und ging ins Gästezimmer, wo Tatia mit konzentriert gerunzelter Stirn am Bügelbrett stand, das heiße Bügeleisen in der Hand.
– Man muß so vorsichtig sein mit diesen Biesen und bezogenen Knöpfen, sagte sie und zog das Eisen über das feuchte Bügeltuch, daß es dampfte und zischte, das hier ist die Bluse, die Sophie heute tragen soll. Wolltest du dich jetzt anziehen? Sehr gut, einen Augenblick!
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte sich, um etwas herunterzuheben, das an der Rückseite der Tür hing.
– Tadaa! sagte sie triumphierend. Eine Überraschung, Martine, ich bin gestern abend aufgeblieben und habe es umgesäumt, damit es die richtige Länge für dich hat.
Es war ein grünes Kleid aus Seidencrêpe mit angeschnittenen Ärmeln, Kragen mit langen Spitzen und engem, schräggeschnittenem Rock. Martine sah sofort, daß es ihr perfekt stehen würde.
– Dreißiger Jahre, sagte sie begeistert, kommt es aus deinem berühmten Koffer?
Tatia nickte und strahlte sie an.
– Du kannst es doch anprobieren, sagte
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