Die toten Mädchen von Villette
sie, ich kann dir helfen, die Haare zu machen, so daß sie dazu passen, wenn du es heute anziehen willst.
Daß ich mich über ein Kleid so freuen kann, dachte Martine, als sie mit dem bügeleisenwarmen Kleidungsstück zurück ins Schlafzimmer ging, das mußte ein Zeichen ausgeprägter Oberflächlichkeit sein. Auf der anderen Seite hatte sie einmal mit Hilfe ihrer Modekenntnisse einen Mord gelöst, fast jedenfalls.
Sie wußte, daß sie ein Paar Schuhe hatte, die zu dem Kleid passen würden, ein Paar Vierziger-Jahre-Schuhe aus schwarzem Wildleder mit kräftigem Absatz. Sie hatten vermutlich Renée gehört, sie hatte sie auf dem Dachboden gefunden, als sie nach dem Tod der Eltern ihr Elternhaus ausgeräumt hatte. Jetzt waren sie irgendwo ganz hinten in ihrer Garderobe.
– Machst du Frühstück, bitte, sagte sie zu Thomas, der im Bett saß und sich die Augen rieb, Tatia will mich hübsch machen.
Eine halbe Stunde später stand Martine im Schlafzimmer vor dem Spiegel und betrachtete fasziniert die Dreißiger-Jahre-Frisur, die Tatia zustande gebracht hatte, weiche Wellen um das Gesicht und ein tiefer Knoten im Nacken. Sie erkannte sich kaum wieder.
Tatia kam herein und stellte sich neben sie. Sie hatte heute das getupfte Vierziger-Jahre-Kleid an. Martine legte den Arm um die Taille ihrer Nichte, und sie lächelten die Bilder im Spiegel an, etwas übertrieben, als posierten sie für eine altmodische Reklame.
Wir sehen anders aus, dachte Martine, aber wem sind wir ähnlich?
Ihr Herz schlug plötzlich einen Doppelschlag. Wir sehen aus wie das Bild, das Tatia gefunden hat, dachte sie, das Bild von Maman und ihrer blonden Freundin. Sie spürte einen eiskalten Finger der Furcht am Rückgrat, eine leichte, rasche Berührung, ebenso schnell vorbei, wie sie gekommen war.
– Das Frühstück ist fertig, rief Thomas aus der unteren Etage, und der Duft starken, frischgebrühten Kaffees stieg verlockend die Treppe herauf. Martine holte im Arbeitszimmer ihre Mappe und ging mit Renées hochhackigen schwarzen Wildlederschuhen hinunter. Sie paßten ihr perfekt, saßen ebenso bequem, als hätte sie sie schon getragen.
Die Gazette de Villette hatte als Aufmacher den nächsten Mord in der Stadt, der junge Mann, den Julie und Dominic am äußeren Ende der Île St. Jean gefunden hatten. Martine war auf dem Korridor auf Julie getroffen, als sie ins Haus gekommen war, um sich von François Cooremans, dem Untersuchungsrichter, der den Fall übernommen hatte, ausfragen zu lassen. Julie hatte mitgenommen gewirkt, kein Wunder nach dem Tag, den sie hinter sich hatte, dachte Martine. Zuerst hatte sie gesehen, wie ihr Cousin mißhandelt wurde, dann war sie über ein Mordopfer gestolpert. Aber es hatte trotzdem aus Julie geleuchtet, als sie Martine erzählte, daß sie und Dominic zusammen in Urlaub fahren würden.
– Noch ein Mord, rief Tatia aus, pfui, wie eklig! Jetzt werden die Leute wirklich bald glauben, daß Villette die übelste Mordhauptstadt ist.
Sie strich Aprikosenmarmelade dick auf eine Scheibe Landbrot und versank in Nathalie Bonnaires Artikel, dernicht besonders viel Information enthielt. Es gab ganz einfach nicht sehr viel zu berichten. Aber Nathalie Bonnaire hatte den Text flott mit weit hergeholten Verbindungen zum Dreifachmord und Hinweisen auf die finstere Geschichte des »Todesparks« aufgefüllt.
– Weiß man, wer er war? fragte Thomas.
Martine schüttelte den Kopf.
– Nein, sagte sie, er hatte keine Brieftasche und keinen Ausweis bei sich. Deswegen dachte man zunächst an einen Raubmord, er trug teure Kleidung, Bruno-Magli-Schuhe, eine Jacke, die maßgeschneidert wirkte. Er hatte eine Rückfahrkarte nach Brüssel in der Innentasche, also war er vermutlich nicht aus Villette.
Tatias Marmeladenbrot schwankte in ihrer Hand, und sie sah Martine unruhig an.
– Wie sah die Jacke aus, fragte sie mit einer Stimme, die klein und ängstlich klang, weißt du das? Ich habe gestern auf dem Platz einen Typen kennengelernt, der aus Brüssel war und eine superschicke Jacke anhatte, die jemand für ihn geschneidert hatte. Das kann er wohl nicht sein? Er hat gesagt, daß er Papa kennt …
Willy Bourgeois war aus seiner gemütlichen Bierrunde mit Wally Hallstein gerissen worden, er mußte sich zusammen mit François Cooremans um die neue Morduntersuchung kümmern. Martine hatte ihn sagen hören, daß der tote junge Mann ausgesehen habe »wie ein Scheißhomo, lange Haare und hautenge Hosen und so eine alberne Jacke«.
Vielleicht
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