Die toten Mädchen von Villette
Gegenstand, alles stimmt mit Ihren Fällen überein, sagte Hallstein.
– Erzählen Sie von Julia, sagte Martine, wer war sie, was machte sie? Was könnte sie dazu gebracht haben, mit einem fremden Mann einen Ausflug am Fluß zu machen?
Hallstein schlug die Mappe auf, nahm ein elegantesBrillenfutteral aus der Innentasche und setzte eine leichte Lesebrille mit goldener Fassung auf, um konzentriert die Unterlagen durchzusehen, bevor er zu erzählen begann.
Julia Kessler war die Tochter eines Lehrerpaars aus Hannover gewesen. Sie hatte nicht davon geträumt, Filmstar oder Fotomodell zu werden, sondern hatte Zukunftspläne ganz anderer Art – sie hätte im Herbst angefangen, an der Leibniz-Universität Physik zu studieren, wenn sie nicht ermordet worden wäre.
– Sie scheint eine ungewöhnliche mathematische Begabung gewesen zu sein, sagte Hallstein, und wollte Forscherin werden. In der Freizeit spielte sie Geige, recht gut anscheinend, sie spielte die zweite Geige in einem Kammerorchester, das als hochklassig galt. Sie hatte einen Freund, aber da scheint es keine heißeren Gefühle gegeben zu haben.
– Das klingt, als wäre sie ein ganz anderer Typ gewesen als unsere Mordopfer aus Villette, sagte Willy Bourgeois erstaunt, das hier klingt ja nach einem netten Mädchen.
Martine war irritiert und konnte es nicht lassen, es zu zeigen.
– Was meinst du damit? fauchte sie, und Willy sah sie verwundert an.
– Ja, Christelle und Sabrina, die waren ja etwas …
Er erkannte plötzlich, daß er sich auf dünnes Eis begeben hatte, und machte mit den Händen eine unbestimmte Geste. Das Wort »schlampig« hing in der Luft, blieb aber unausgesprochen, möglicherweise, weil Willy nicht wußte, wie es auf Englisch hieß.
– Die Frage ist ja, wie und wo sie ihren Mörder getroffen hat, sagte Martine.
– Ja, und hier wird es interessant, sagte Wally Hallstein.Anfangs wurde ihr Freund stark verdächtigt, in erster Linie weil er ihr Freund war und weil sie gestritten hatten. Es gab aber nichts, das direkt auf ihn hindeutete. Aber man stellte sich ein Versöhnungspicknick vor, mit einem völlig falschen Ende. Und der Junge hatte kein Alibi, er behauptete, er sei allein spazierengegangen. Es wäre beinah zur Anklage gekommen, aber im letzten Moment tauchte ein Zeuge auf, der ihn tatsächlich etliche Kilometer vom Tatort entfernt gesehen hatte, wie er einen Waldweg entlangging und finster dreinsah, genau zu der Zeit, als der Mord stattgefunden haben dürfte. Aber die Untersuchung war von Anfang an lausig, soweit ich das so im nachhinein sehen kann, man begrenzte sie viel zu früh auf den Freund, und als sich erwies, daß er unschuldig war, waren alle anderen Spuren erkaltet. Einen Mörder fand man nie.
– Geht aus der Untersuchung hervor, was sie an den Tagen vor dem Mord getan hat? fragte Martine gespannt.
– Ja, das tut es, sagte Hallstein und blätterte in seinen Papieren. Und ich glaube, das könnte Sie interessieren. In den Tagen vor dem Mord war nämlich in Hannover ein europäisches Gipfeltreffen, und zwei Tage bevor Julia ermordet wurde, spielte sie Geige auf einem Empfang, den die Universität für Personen organisiert hatte, die wegen des Gipfeltreffens dorthin gekommen waren, Journalisten und Diplomaten und so. Es war nicht das ganze Orchester, das auftrat, sie hatten aus einigen der jüngeren Musiker ein kleines Streichensemble gebildet, und da war Julia dabei. Sie spielten etwas Haydn, etwas Mozart, ausreichend viel, um der Veranstaltung einen Touch von Klasse und Kultur zu geben, und ausreichend wenig, um die Leute nicht zu sehr zu ermüden, und dann haben sich die Jugendlichen unter die Gäste gemischt.
Er nahm ein Foto aus der Mappe und reichte es zu Martine hinüber. Julia Kessler in ärmellosem schwarzem Kleid mit aufgesteckten Haaren und Cocktailglas in der Hand, lächelnd und noch quicklebendig. Sie war hübsch auf eine ordentliche, propere Weise, und ihr klarer, heller Blick hatte etwas sehr Intelligentes.
– Sie hat ihn auf dem Empfang kennengelernt, sagte Martine langsam, und er hatte etwas, das sie dazu bringen konnte, mit ihm zu einem Picknick am Fluß zu kommen. Jetzt haben wir vier Morde, vermutlich mit demselben Täter – Villette 1982, Fontainebleau 1984, Hannover 1988 und Villette 1994. Es sieht tatsächlich so aus, als hätten wir es mit einem europäischen Serienmörder zu tun, der mehrere Jahre lang unentdeckt agieren konnte. Und es muß weitere Opfer geben. Unsere Gerichtsmedizinerin
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