Die toten Mädchen von Villette
an einem roten Audi, der im letzten Augenblick einen Platz in der rechten Spur fand. Philippe drehte den Kopf und sah das erschrockene Gesicht des Fahrers vorbeihuschen, während Bernadette in ihrem dunkelblauen BMW sich unerbittlich ihren Weg bahnte.
– Er heißt Johann Dieter Weiss, sagte Philippe, er ist deutscher Staatsbürger und wohnt in der Rue Antoine Dansaert, ich weiß nicht mehr, welche Nummer. Er ist Zeuge in einer Morduntersuchung in Brüssel, Sie können mit Kommissar Patrick Anneessens über den Mord an Eric Janssens reden. Aber ich glaube, ich weiß, wer ihn ermordet hat, nein, ich bin nicht verrückt, ich habe versucht, meine Schwester zu erreichen, ich glaube, daß er wieder töten kann und daß meine Tochter in Gefahr schwebt!
Er versuchte, möglichst nicht hysterisch zu klingen, aber hatte das Gefühl, daß es ihm nicht besonders gut gelang. Wenn François Cooremans ihn trotzdem ernst nahm, lag das wohl vor allem daran, daß er der Bruder einer Untersuchungsrichterin war. Cooremans versprach jedenfalls,jemanden loszuschicken, um nach Jacques Martin zu suchen, und Martine zu informieren, wenn er sie sah.
– Er hat wieder gemordet, sagte Philippe zu Bernadette, er hat Eric Janssens’ Freund ermordet. Armer Junge, ich habe gespürt, daß er mehr wußte, als er sagen wollte, und daß ihm etwas Schlimmes passieren könnte.
Ein kleiner grüner Renault entging um ein paar Zentimeter dem Schicksal, von Bernadette und ihrem BMW zertrümmert zu werden.
– Du fährst wie ein Autodieb, Dédé, sagte Philippe matt.
Bernadettes beringte Finger umfaßten das Lenkrad noch härter. Philippe betrachtete die Ringe, das Zeichen ihres neuen Wohlstands als Ehefrau von Bert Demeester, Kaskaden von Brillanten und Smaragden und Rubinen. Plötzlich sah er, daß Bernadette am rechten Ringfinger immer noch den Ring trug, den er ihr geschenkt hatte, als er sich widerwillig mit ihr verlobt hatte, einen Art-déco-Ring aus Weißgold mit einem Aquamarin, der seiner Großmutter gehört hatte. Er erinnerte sich noch, wie Renée den Ring in seine Hand gedrückt und ihren Sohn mit einer Unruhe in ihren dunklen Augen, die er nicht deuten konnte, betrachtet hatte. Vielleicht hatte sie mehr begriffen, als er geahnt hatte.
– Ich fahre nicht wie ein Autodieb, Philippe, sagte Bernadette ruhig, ich bin ein ausgezeichneter Autofahrer, aber du hast mich ja immer unterschätzt. Warum hast du mir nie erzählt, wie die Dinge liegen?
Er machte sich nicht die Mühe, so zu tun, als verstehe er nicht, was sie meinte.
– Was hätte das genützt, sagte er, was ich auch getan habe, ich konnte ja nicht anders, als dich zu verletzen, auch wenn ich es nicht wollte. Und ich wußte nicht, wie du reagieren würdest, ich wußte nicht, wie überhaupt jemandreagieren würde. Dein Bruder hat gesagt, daß solche wie ich nicht leben dürften, wußtest du das? Ich hatte Angst, daß du das auch denken würdest, Angst davor, was alle denken würden, eine Todesangst davor, was Tatia denken würde.
Vor ihnen waren jetzt die ersten Schilder für die Abfahrt nach Namur und Villette zu sehen. Bernadette fuhr langsamer und manövrierte sich geschickt auf die rechte Spur.
– Wir müssen das ein andermal besprechen, sagte sie, es wartet sowieso schon seit sechs Jahren. Jetzt geht es darum, unsere Tochter zu retten.
Marcelle Janvier, siebzehnjährige Tochter eines Apothekers in Philippeville in Algerien, war an einem Apriltag 1948 unten am Strand vor der Stadt tot aufgefunden worden. Sie hatte dagesessen, an eine Palme gelehnt. Pierre Montanard war damals ein junger Arzt gewesen, der dabei war, seine ersten Erfahrungen als Gerichtsobduzent zu machen. Es faszinierte ihn, daß man Tote zum Sprechen bringen konnte, sagte er. Martine hatte den Telefonlautsprecher auf höchste Lautstärke gestellt, und die heisere, respekteinflößende Stimme füllte ihr Dienstzimmer.
Marcelle Janviers toter Körper hatte dem jungen Obduzenten rasch seine Geheimnisse verraten. Er hatte feststellen können, daß sie mit einem Schal oder etwas Ähnlichem, breit und weich, erwürgt worden war, daß ihre Vagina mit einem Gegenstand penetriert worden war und daß sie, unmittelbar bevor sie getötet wurde, etwas gegessen hatte.
– Nicht Gänseleber und Champager, verstehen Sie, sondern etwas bedeutend Einfacheres, mit Wasser vermischter Wein und Brot und Käse. Trotzdem mußte ich an diesen Mord schon denken, als ich mir den Fall mit der kleinen Fabienne in Fontainebleau
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