Die toten Mädchen von Villette
vorbeiraste wie ein grüner Strich.
Die Tür zu dem Haus, wo Sophie wohnte, stand offen, und Martine lief weiter die Treppen hinauf, ohne das Tempo zu verringern. Als sie zu Sophies Treppenabsatz kam, sah sie, daß Tony Deblauwe vor ihr angekommen war. Was tat er da?
– Es ist keiner hier, sagte Tony, oder zumindest keiner, der aufmacht, aber wir müssen trotzdem reingehen. Not kennt kein Gebot.
– Willst du die Tür eintreten? sagte Martine eifrig.
Sie fühlte sich so geladen, daß sie absolut bereit war, sich zusammen mit Tony gegen die Tür zu werfen.
– Nein, nein, sagte Tony, die konnten Türen machen, diehielten, damals, als dieses Haus gebaut wurde, aber mit Schlössern war es nicht so weit her.
Er zog etwas aus der Brusttasche, etwas, das klimperte, eine Sammlung Dietriche, nahm Martine an, und öffnete in weniger als einer halben Minute das altertümliche Schloß.
Die Wohnung war leer und dunkel, mit zugezogenen Gardinen. Mitten in dem kleinen Wohnzimmer stand Tatias Koffer mit einem niedrigen Kasten, der aus dem Boden herausgezogen worden war. Der Kasten war leer.
– Das Geheimfach, sagte Tony, er hat gefunden, was er gesucht hat.
– Was machst du eigentlich hier, sagte Martine, Jacques Martin ist der Dreifachmörder, aber wie bist du darauf gekommen?
– Das bin ich nicht, sagte Tony, Philippe hat angerufen, das ist eine komplizierte Geschichte, aber sie läuft darauf hinaus, daß der Fotograf auch den Jungen ermordet hat, den ihr gestern auf dem Galgenberg gefunden habt. Also müssen wir ihn und Sophie und Tatia finden. Wo können sie hingefahren sein?
Martine spürte plötzlich, daß sie verschnaufen mußte. Sie sank auf einen Stuhl und griff sich in die Seite.
– Ich weiß nicht, sagte sie, es sollte eine Art Rückblick auf Sophies Karriere sein, mit »Blanche von Namur« als Ausgangspunkt. Du bist der Experte in Sachen Sophie, was würdest du sagen?
Tony überlegte kurz.
– Die Zitadelle, sagte er, es gibt ein paar bekannte Bilder von den Dreharbeiten von »Blanche«, die an der Zitadelle in Namur gemacht wurden. Wir können es darauf ankommen lassen und da rauffahren, ich habe das Auto hier unten.
– Ich will nur noch erst im Justizpalast anrufen, sagte Martine und hob den Hörer des Telefons ab, das im Bücherregal stand. Sie sagte Bescheid, daß sie auf dem Weg zur Zitadelle sei, während sie sich gleichzeitig vergewisserte, daß die Fahndung nach Jacques Martin an alle Polizeistreifen rausgegangen war und daß sie Befehl hatten, ihn festzunehmen.
Tonys roter Jaguar stand in einer Seitenstraße. Martine ballte die Fäuste so fest, daß die Nägel rote Halbmonde in die Haut drückten, als Tony viel zu langsam den Justizpalast passierte, über den Pont des Évêques und nach rechts auf den Quai des Marchands weiterfuhr, bis er schließlich in den Tunnel einbiegen und auf der Straße, die zur Zitadelle führte, das Tempo erhöhen konnte.
Sie bogen auf den Burghof ein, während gleichzeitig ein dunkelblauer BMW aufheulend den Hang heraufkam und neben ihnen bremste.
Sophie kam über den Burghof, elegant in ihrer pfirsichrosa Dreißiger-Jahre-Bluse und ihrer schwarzen langen Hose, gerade als Tony und Martine aus einem Auto sprangen und Bernadette und Philippe aus dem anderen.
Sophie sah sie erstaunt an.
– Wo ist Tatia? schrie Martine.
Sophie zeigte auf die Mauer, die sich über dem steilen Hang hinunter zum Fluß auftürmte.
– Da, sagte sie, sie ist auf die Mauer gestiegen, zusammen mit Jacques.
KAPITEL 11
Mittwoch, 29. Juni 1994
Villette
Er liebte Simone. Nein, er haßte sie. Manchmal war er sich nicht ganz sicher, wie er fühlte, aber früher oder später kam er immer wieder darauf zurück, daß er Simone liebte und ihr nie hatte schaden wollen. Er wollte ihr nur eine Lektion erteilen, und deshalb hatte er seinem Vater davon erzählt, was sie trieb, so daß die Gestapo gekommen war und sie geholt hatte.
Aber Simone war gestorben und nie zurückgekommen. Das konnte nicht seine Schuld sein, denn er liebte Simone ja. Sie war die einzige, die er je geliebt hatte. Also mußte es die Schuld eines anderen sein, daß sie gestorben war, und jetzt wußte er, wer das war. Alles war Renées Schuld. Renée war zurückgekommen, während Simone dort geblieben war. Simones sogenannte Freundin mußte sie im Stich gelassen haben, er hatte immer den Verdacht gehabt, daß sie das einmal tun würde. Sie hatte vermutlich Simones Essen aufgegessen, und als Simone im Lager krank wurde,
Weitere Kostenlose Bücher