Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
Tyler gefragt, ob sie den Namen schon mal gehört hat. Aber das hat sie nicht. Hätte sie nur, ja, hätte sie nur den Namen von Fiona Chandlers Ehemann gewusst, des Mannes, der sie verlassen hat, hätte das meiste verhindert werden können. Aber es gab keinen Grund anzunehmen, dass zwischen dem toten Mädchen und dem Besitzer des Sargs, in den man sie entsorgt hat, eine Verbindung besteht. Die gibt es bei den anderen auch nicht – es ging lediglich darum, mit Hilfe der Särge kürzlich Verstorbener die toten Mädchen unter die Erde zu befördern, was die ganze Sache um einiges erleichterte. Ich habe die letzten vier Wochen damit verbracht, Tod und Leid zu verbreiten, doch das wird sich jetzt ändern. Henry Martins war Fiona Chandlers erster Ehemann. Er hat sie verlassen, als sie von Vater Julian schwanger wurde. Er tauchte ab in eine andere Welt, wo er eine andere Frau kennenlernte, eine Frau, die ihn nicht betrügen würde, und gründete eine Familie. Gut zwanzig Jahre später stand ich an seinem Grab und sah dabei zu, wie sein Sarg aus der Erde gehievt wurde.
»Hey, hey, du kannst hier nicht rein!«
Die Antworten stürzen auf mich ein, und das weiße Rauschen ist wieder da. Aus jedem Winkel meines Gehirns schießen Bilder und Wörter; wie so oft, wenn die Ermittlungen kurz vor dem Abschluss stehen, wenn Adrenalin ausgeschüttet wird und das endgültige Hochgefühl nur noch eine Verhaftung weit entfernt ist. Bloß dass heute meine Hände zittern und ich mir wie ein Idiot vorkomme; diesmal kann ich womöglich lange auf das Hochgefühl warten.
Auf der Fahrt hierher habe ich gerade ein Dutzend Verkehrsregeln gebrochen. Der Regen trommelt aufs Dach, als würden unzählige Landminen gleichzeitig explodieren. Ich zwänge mich in den Flur. Wäre Henry Martins nicht hinter die Affäre seiner Frau gekommen und hätte er seine Familie nicht verlassen, sondern den Jungen wie seinen eigenen großgezogen, dann wäre das alles nicht passiert. Die Mädchen, der Priester, die Aldermans, selbst der gute alte Henry – sie alle wären wahrscheinlich noch am Leben. Für einen kurzen Moment frage ich mich, ob es weitere Auswirkungen gehabt hätte, wenn diese Menschen noch am Leben wären, ob vielleicht einer von ihnen vor zwei Jahren meiner Frau oder Quentin James über den Weg gelaufen wäre und einen von beiden jene zehn Sekunden aufgehalten hätte, die nötig gewesen wären, um den Unfall zu verhindern.
»Hey, bist du taub? Du kannst hier nicht rein.«
»Wo ist er?«, frage ich.
»Was?«
»Vielleicht bist du ja taub. Wo zum Teufel ist er?«
»Er ist weg, Mann.«
Ich drücke Nietengesicht gegen die Wand. Seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er seine Piercing-Sammlung um ein paar Stücke erweitert. Am liebsten würde ich den dürren kleinen Mistkerl direkt durch die Wand sto ßen und erwürgen, allerdings nicht aus Wut auf ihn, sondern auf mich, weil ich mich so leicht habe täuschen lassen. Und auf David, weil er mir was vorgemacht hat. Vor einem Monat wirkte sein Schmerz so echt, so unerträglich, ja, so glaubwürdig. Wie konnte ich nur auf so eine Nummer reinfallen? Selbst wenn ich noch Cop wäre, hätte ich es nicht gemerkt. Genau wie die Cops, die mit ihm gesprochen haben.
»Weg? Wohin?«
»Er ist ausgezogen. Vor ein paar Tagen. Und er schuldet mir noch die Miete.«
Ich lasse Nietengesicht wieder los. Er stößt sich von der Flurwand ab und drückt die Brust heraus, um härter zu wirken; so als hätte er mich dazu provoziert, ihn so grob anzupacken.
»Wo ist er hin?«
»Woher verdammt noch mal soll ich das wissen?«, fragt er, jetzt, da ich ihn losgelassen habe, etwas schroffer.
Ich schubse ihn erneut gegen die Wand und marschiere in Davids Schlafzimmer. Das letzte Mal sah es hier aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Außer den Möbeln sind alle Sachen fort.
»Er meinte, ich kann sie behalten«, sagt Nietengesicht, »aber, Alter, das Zeug ist einen Scheiß wert.«
»Hat er manchmal auch andere Frauen mitgebracht?«
»Nein. Er ist seitdem mit keiner mehr zusammen gewesen – also, seit Rachel verschwunden ist.«
»Sie ist wieder aufgetaucht.«
»Ja, hat er mir erzählt.«
Ich schaue mich im Schlafzimmer um, doch es gibt hier nichts, was mich weiterbringen würde. Ich kippe das Bett um und durchsuche die Nachttischschubladen. Ich hebe die Ecke des Teppichs an, für den Fall, dass die Vorliebe für diese Art von Versteck doch stärker vererbt wird, als ich zunächst angenommen habe, aber dort ist
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