Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
ebenfalls nichts.
»Alter, du machst hier alles kaputt.«
»Bist du sicher, dass er sich nicht mit anderen Frauen getroffen hat?«
Nietengesicht zuckt mit den Achseln. »Mann, ich bin nicht seine Mutter.«
»Schön, hoffentlich weiß sie mehr als du.«
»Glaub nicht. Seit Rachel verschwunden ist, hat er kein Wort mehr mit ihr gewechselt. Soweit ich weiß, hasst er seine Mutter. Mann, er hasst sie wie die Pest.«
»Ich frage mich nur, warum«, sage ich, doch ich weiß es bereits.
»Tja«, sagt er und versucht so zu klingen, als wüsste er ebenfalls Bescheid, aber er hat keinen Schimmer. Niemand kann davon wissen.
»Wann ist er ausgezogen?«
»Hab ich dir doch schon gesagt, Mann, vor ein paar Tagen.«
»Wann genau? Dienstag? Mittwoch? Donnerstag?«
»Keine Ahnung.«
»Du weißt es nicht?«
»Mann, ich weiß nicht mal, was heute für’n Tag ist.«
Ich zwänge mich erneut an ihm vorbei und fange an, den Rest des Hauses zu durchsuchen.
»Hey, Mann, du kannst hier nicht einfach alles durchwühlen.«
»Dann sag mir, wo er steckt.«
»Keine Ahnung.«
»Ihr seid doch Freunde, oder?«
»Er schuldet mir die Miete.«
»Dann bist du ihm auch nichts schuldig. Was schätzt du? Was glaubst du, wo er steckt?«
»Ich kann mich erinnern, dass er irgendwas von’nem Treffen mit einer Frau gesagt hat. Er war verabredet. Aber irgendwas war seltsam daran. Das weiß ich noch.«
»Herrgott noch mal, wenn es so seltsam war, dass es dir aufgefallen ist, warum kannst du dich dann nicht mehr an die Einzelheiten erinnern?«
»Ich war, Mann, du weißt schon … Ich war quasi in einem anderen Zustand.«
»Du warst stoned.«
»Soweit ich mich erinnern kann, ja.«
»Hast du ihren Namen mitgekriegt?«
»Nee. Vielleicht. Keine Ahnung.«
»Könnte es Deborah gewesen sein?«
»Klar, kann gut sein. Aber genauso gut Susan. Oder Nicola.«
»Das hilft mir echt weiter.«
Nietengesicht zuckt mit den Achseln. »Das ist alles, was ich weiß, Mann. Hey, wenn du ihn auftreibst, sag ihm, dass er mir noch die Miete schuldet, okay?«
»Hör zu, das ist wichtig«, sage ich und reiche ihm eine meiner Visitenkarten. »Wenn dir noch was einfällt, ruf mich an.«
»Ja, meinetwegen«, sagt er und stopft die Karte in seine Tasche. Wahrscheinlich hat er in fünf Minuten schon wieder vergessen, dass sie überhaupt da ist.
»Okay, machen wir’s auf deine Weise«, sage ich. »Hast du eine Schere?«
»Leck mich, Mann.«
»Mein Gott, ich hab nicht vor, dich damit zu verletzen. Wenn ich Spaß haben will, erschieß ich dich einfach. Also, was ist jetzt mit der Schere? Komm schon, beeil dich.«
Er schlurft in die Küche und taucht ein paar Sekunden später wieder auf. Ich greife in meine Tasche und fördere das Geld von meiner Mutter zutage. Ich halte ihm zwei Hundert-Dollar-Scheine vor die Nase und schneide sie mit der Schere in der Mitte durch. Dann gebe ich ihm zwei der Hälften, die beiden anderen stecke ich in meine Hosentasche.
»Was zum Geier soll ich damit anfangen?«
»Sie werden deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Um dir den Rest zu verdienen, musst du schon mit was rüberkommen, das mir weiterhilft.«
Kapitel 56
Ich sitze in meinem geparkten Wagen und denke über Rachel Tyler und David Harding nach. Ich frage mich, wer von beiden den größeren Ekel empfunden hat, als sie die Wahrheit erkannt haben. Ausgeschlossen, dass David und Rachel in den Jahren, in denen sie ein Paar waren, wussten, dass sie Bruder und Schwester sind – während sie im selben Bett schliefen, einander nachts im Arm hielten und von ihren Träumen und Ängsten sprachen.
Rachel & David für immer.
So lautete die Inschrift in dem Ring.
Dann ist David irgendwie dahintergekommen. Und die Wahrheit hat ihn krank gemacht. Sie hätte jeden krank gemacht, und wütend. Ich frage mich, ob er überhaupt wusste, dass er zu so einer Reaktion fähig ist, zu solch grenzenloser Wut. Hat er ihr die Schuld gegeben? Oder sich selbst? Oder nur Vater Julian? David hatte seinen eigenen Abgrund, und vielleicht war ihm das bis zu jenem Tag nicht mal bewusst. Er hat Rachel getötet, weil er nicht damit fertig wurde, dass seine Schwester seine Freundin war. Die meisten Menschen wären zornig gewesen, beschämt und verletzt, aber welche Reaktion ist schon normal? Weiterleben und versuchen, die Sache zu vergessen? Sie totschweigen, die Erinnerungen und Gefühle so weit wie möglich verdrängen und nie wieder erwähnen? Oder einen Seelenklempner aufsuchen, sich eingestehen,
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