Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
auf den Sarg gelegt. Einige fühlten sich erleichtert. Aber niemand hat den Mann, den sie beerdigten, wirklich gekannt.
Ich verschaffe mir auf dieselbe Weise Zutritt wie neulich und haste mit meiner Taschenlampe durch die Kapelle zur Vorderseite der Kirche. Es fühlt sich an, als wäre immer noch jemand hier – vielleicht Vater Julian. Ich überfliege die Registratur und stelle fest, dass sie aktualisiert wurde und die Beerdigung des Priesters bereits eingetragen ist. Dann studiere ich die Karte der Friedhofsanlage, bis ich die Grabstelle gefunden habe.
Mit meiner kleinen Taschenlampe bewaffnet gehe ich zwischen den Toten hindurch, und die Friedhofsszenen aus Horrorfilmen kommen mir plötzlich sehr real vor. Hände, die sich durch die Erde bohren, verweste Tote, die zum Leben erwachen und sich mit ihren knochigen Fingern aus dem Erdreich wühlen, das sie gefangen gehalten hat. Ich schaffe es, die Bilder abzuschütteln, und an ihre Stelle tritt David Harding, ein Mann, der sehr viel furchteinflößender und realer ist.
Ich brauche zehn Minuten, bis ich die andere Seite des Friedhofs erreicht habe. Die Grabsteine und Bäume um mich herum wirken wie die Begrenzungen eines Labyrinths. Es könnten sich noch ein Dutzend Menschen hier aufhalten, ich würde keinen von ihnen bemerken. Angesichts der Zeit, die ich zuletzt auf dem Friedhof verbracht habe, müsste ich diesen Ort eigentlich wie meinen eigenen Hinterhof kennen, denn das ist er inzwischen geworden. Wenn ich was trinke, kommt vielleicht alles wieder zurück. Der Regen lässt erneut nach, und der weiche Boden bleibt an meinen Füßen kleben. Als ich zu dem Abschnitt mit den Gräbern komme, den ich gesucht habe, bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich überhaupt an der richtigen Stelle bin. Denn hier sieht alles gleich aus.
Im Laufen lasse ich meinen Blick über die Grabsteine wandern. Namen und Zahlen wischen vorbei, während die Taschenlampe über die Inschriften huscht. Geburtstage, Todestage, Botschaften von den Toten und den Lebenden, geliebte Menschen – einige mehr, andere weniger: Sie alle verschmelzen zu einem riesigen Ganzen. Jeden Moment in Gefahr, auf dem feuchten Gras auszurutschen, fange ich an, nach frisch umgegrabener Erde Ausschau zu halten.
Hier draußen gibt es Tausende von Gräbern. Aber nur eines, das mich interessiert.
Bald wird mir klar, dass ich mich verirrt habe. Dunkle Bäume und dunkle Gräber, und nichts, woran ich mich orientieren könnte. Und als ich mich bemühe, meine Fußabdrücke zurückzuverfolgen, kann ich sie nicht mehr entdecken. Das Grab, das ich suche, könnte überall sein. Die Kirche ebenfalls.
Da sacken plötzlich meine Füße weg, alles um mich herum schnellt in die Höhe, und ich stürze nach unten. Hektisch reiße ich meine Hände nach oben und knalle mit dem Gesicht an die gegenüberliegende Grabwand; mein Kopf prallt zurück, und mit der Schulter krache ich gegen die Kante des Sargdeckels, das eine Bein landet im Sarg, das andere außerhalb. Für einen Moment, während alles um mich herum dunkel wird, kann ich mich nicht mehr bewegen. Was ist passiert? Mir ist schwindlig.
Dann allmählich nimmt dieses Land, fast zwei Meter tiefer als der Rest der Welt, Konturen an, und das ist nicht gerade angenehm. Ich kann eine Hand unter mir spüren, die gegen meine Brust drückt. Mein Gesicht wird gegen die Seite des Sarges gequetscht. Endlich schaffe ich es, mich auf die Seite zu rollen, und als mein Körper die Taschenlampe freigibt, ist plötzlich wieder das Licht da. Ich hebe die Lampe auf.
Außer mir ist niemand im Grab. Der Sarg steht offen, und das rosafarbene Innenfutter ist, abgesehen von ein paar Erdklümpchen, sauber; das ganze Ding ist allerdings feucht. Und unscharf. Der komplette Sarg ist unscharf, und als ich meine Hand vor mir ausstrecke und die Taschenlampe darauf richte, bemerke ich, dass Hand und Lampe ebenfalls unscharf sind. Ich lange nach oben und berühre meine Stirn, und als ich die Finger herunternehme, klebt Blut daran.
Ich greife nach der Sargkante, um mich nach oben zu ziehen, rutsche jedoch ab und falle erneut nach hinten. Als ich die Taschenlampe ausschalte, wird alles um mich herum schwarz, und für einen Moment bin ich sehr viel tiefer gestürzt als die zwei Meter, die der Sarg unter der Erde liegt, in eine andere Welt, zu der Licht und Leben noch nicht vorgedrungen sind. Ich lausche in die Nacht, kann jedoch nichts hören – zunächst jedenfalls nicht -, dann ertönt ein leises Murmeln.
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