Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
nichts mit Schicksal oder Pech zu tun, sondern mit einer bewussten Entscheidung. Mit Wahrscheinlichkeitsrechnung. Und Mathematik. Soll hei ßen, es musste irgendwann passieren. Lässt man einen Säufer Tag für Tag auf die Straße, bringt er zwangsläufig irgendwann jemanden um. Das ist unvermeidlich, so wie irgendwann Zahl kommt, wenn man eine Münze wirft.
Darum war Totschlag für mich zu wenig. Viel zu wenig. Er kam gegen Kaution wieder frei und versuchte sofort, seinen Wagen auszulösen, doch zum allerersten Mal wurde es abgelehnt. Das konnten sie sich nicht leisten – die Leute waren wegen des Unfalls ziemlich aufgebracht. Und wütend auf das System, das ihn immer wieder hatte laufen lassen. Diesmal gaben ihm die Gerichte seinen Wagen also nicht zurück, zumindest nicht, bis der Prozess vorbei war. So als hätte der Richter endlich begriffen, dass das so wäre, als würde er Jack the Ripper ein Skalpell in die Hand drücken, und dass es in diesem Fall nicht nur darum gehen konnte, einfach abzukassieren. Dieses Mal würde James im Gefängnis landen. So viel war sicher. Man würde ihn für zwei Jahre wegsperren, in eine Zelle, die allerdings sehr viel größer war als der Sarg, in den meine Tochter gesteckt wurde.
Doch dann kam alles ganz anders. Quentin James landete nie im Gefängnis. Und meine Tochter liegt nicht mehr in ihrem Grab. Verkehrte Welt.
Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Ich knie neben einem Erdhügel und einem leeren Sarg im Gras. Sidney Alderman war hier und hat ihr Grab ausgehoben, so wie sein Sohn das vorher schon mit anderen Gräbern getan hat. Er hat gegraben und alte Wunden wieder aufgerissen; der Schmerz über den Verlust meiner Tochter ist so stark wie an dem Tag, als Quentin James sie mir genommen hat. Ich kann meine Wut nicht mehr an ihm auslassen, denn er ist nicht mehr da, aber Alderman lebt noch, und ich werde diesen Scheißkerl finden.
Ich stehe auf. Und kehre dem Grab meiner Kleinen den Rücken. Der Himmel hat weiter aufgeklart, und es scheint, als könnte es tatsächlich ein ziemlich schöner Tag werden. Jedenfalls, was das Wetter angeht. Ziemlich schlimm, was alles andere betrifft. Ich lasse meinen Wagen an und fahre zu Aldermans Haus. Am liebsten würde ich direkt hineinrasen, den Wichser mit hundert Sachen plattmachen, Schindeln und Gipskarton in tausend Stücke reißen. Stattdessen lege ich am hinteren Ende seiner Auffahrt eine Vollbremsung hin. Der Kies spritzt in sämtliche Richtungen, und eine dünne Staubwolke schwebt vom Wagen Richtung Haus. Ich steige aus und knalle die Tür zu; wie gern hätte ich jetzt die Waffe, die der Sohn des Friedhofswärters gegen sich selbst gerichtet hat. Doch alles, was ich habe, ist meine Wut. Das sollte reichen. Ich glaube, dass die Wut letztlich stärker ist als der Schmerz. Selbst an einem Dienstag.
Kapitel 19
Die Luft im Haus ist feucht, und es stinkt immer noch nach Alkohol. Die Möbel gehen mir derart auf die Nerven, wie Möbel es eigentlich gar nicht können sollten. Am liebsten würde ich das Haus in Brand stecken. Wände und Böden inklusive der zerkratzten Polstergarnitur mit Benzin übergießen und das ganze beschissene Grundstück in ein Häufchen Asche verwandeln. Zusammen mit Sidney Alderman, geknebelt und gefesselt und bei vollem Bewusstsein.
Aber er ist nicht hier. Er ist irgendwo mit meiner Tochter unterwegs und stellt Gott weiß was an. Wahrscheinlich vergräbt er sie irgendwo. Oder versenkt sie in einem anderen See, in einem Fluss oder im Meer.
Die Fotoalben sind nicht mehr da. Das heißt, Alderman hat gemerkt, dass ich hier war, und damit gerechnet, dass ich zurückkehre. Ich sehe mich erneut im Haus um. Durchsuche Schubladen und Schränke, finde jedoch nichts Nützliches, denn das hat die Polizei wahrscheinlich bereits mitgenommen. Ich lasse keinen Stein auf dem anderen. Werfe Ordner, Müll und Bücher im Vorbeigehen auf den Boden. Aber nichts. Die meisten Sachen stoße ich einfach beiseite; ich richte ein heilloses Chaos an und habe meinen Spaß dabei. Das reicht zwar nicht, um meinen Schmerz zu lindern, doch fürs Erste muss ich mich damit begnügen.
Ich marschiere wieder raus zu meinem Wagen und schnappe mir das Ladegerät für das Handy, stecke es in eine Buchse neben Aldermans Toaster und warte, bis mein Telefon anfängt, sich aufzuladen. Dann nehme ich mir die Schlafzimmer vor. Bruce Alderman hat erwähnt, dass das Beweisstück unter seinem Bett liegt, aber das hilft mir jetzt wahrscheinlich auch
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