Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
behutsam mit ihr umgegangen.
Ich nehme mein Telefon und trete nach draußen. Der See, die Kirche, das Land der Toten – nichts davon kann man von irgendeiner Stelle dieses Grundstücks aus sehen, es sei denn, man holt die Leiter aus dem Schuppen und steigt aufs Dach oder klettert am Zaun hoch. Ich entscheide mich für Letzteres.
Das Grundstück grenzt zwar an den Friedhof. Doch weder die Cops mit ihren Grabungen noch die Forensiker mit ihren Stoffzelten halten sich in der Nähe von Aldermans Haus auf. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen sein muss, in einem Haus aufzuwachsen, über dessen Zaun man auf Bäume und Grabsteine aus Granit blickt. Bestimmt verstörend. Jedenfalls nicht gesund. Ich frage mich, ob es wirklich der Verlust von Frau und Mutter war, der Bruce und Sidney Alderman krank gemacht hat. Oder doch eher diese Umgebung.
Kapitel 20
Als ich bei meinem Haus vorfahre, rechne ich beinahe damit, dass es lichterloh brennt. Oder dass die Fenster eingeschlagen wurden. Oder dass zumindest jemand den Schriftzug »Mörder« auf Garage und Zaun gesprüht hat. Ich biege in die Auffahrt, bleibe neben meinem Wagen stehen und lasse meinen Blick über die Straße wandern. Halte Ausschau nach Sidney Alderman, doch er ist nirgends zu sehen. Es ist überhaupt niemand zu sehen. Nicht mal Casey Horwell. All meine Nachbarn sind unsichtbar und tun, was Nachbarn eben so tun. Rasen mähen. Unkraut zupfen. Kochen und fernsehen. Keiner von ihnen versucht herauszufinden, wo sein totes Kind abgeblieben ist. Vorsichtig betrete ich das Haus. Letzte Nacht hat man eine Pistole auf mich gerichtet und nur Stunden später ein Mikrofon; ich bin nicht scharf darauf, zweimal den gleichen Fehler zu machen.
Ich stecke mein Handy wieder ins Ladegerät, dann hole ich den Computer aus dem Wagen und baue ihn auf dem Esstisch auf. Bridget wäre darüber nicht erfreut. In der Zeitungsdatenbank der Christchurch Library suche ich nach weiteren Berichten, die im Zusammenhang mit Bruce’ Zeitungsausschnitten stehen. Ich lade so viele wie möglich davon herunter, genau wie von den Berichten über die vermissten Personen; dazu alles, was ich über Leben und Tod der Mädchen finden kann – auch wenn in keinem der Artikel steht, dass sie tot sind. Doch sie lesen sich, als würden die Journalisten fest damit rechnen. Ich drucke von jedem der vier Mädchen ein Foto aus, dann lege ich sie nebeneinander. Der Typ Mädchen, für den ihr Mörder eine Vorliebe hatte, ist so besonders klar zu erkennen.
Zwei Stunden lang lese ich alles über die Vermissten, was mir nicht leichtfällt, denn in Gedanken kehre ich immer wieder zu Alderman und Emily zurück.
Ich sehe die Todesanzeigen aus der Woche vor dem Verschwinden der Mädchen durch, suche nach denselben Familiennamen wie den ihren, um herauszufinden, ob sie einen Grund hatten, einer Beerdigung beizuwohnen. Ohne Ergebnis. Das heißt nicht, dass ich auf der falschen Fährte bin, denn es ist immer noch möglich, dass sie auf der Beerdigung eines Freundes oder eines Angehörigen mit anderem Nachnamen waren. Um wirklich sicherzugehen, müsste ich ein paar Telefonate führen; doch mit den Familien der toten Mädchen zu reden ist momentan das Letzte, worauf ich Lust habe.
Ich schnappe mir das Whiteboard, stelle es auf einen Stuhl und lehne das obere Ende gegen die Wand. Zum Schreiben habe ich lediglich einen Edding, mit dem ich jetzt eine Zeitachse aufzeichne. Ich glaube, dass Henry Martins zwei Tage nach seinem Tod beerdigt wurde. Wenn ich diese Tage zu seinem Sterbedatum addiere, geht die Rechnung auf. Henry ist an einem Dienstag gestorben und wurde an einem Donnerstag beerdigt. Rachel wurde zum letzten Mal am Donnerstagmorgen gesehen und am darauffolgenden Dienstag von ihren Eltern als vermisst gemeldet. Doch als ich die anderen vermissten Mädchen auf der Zeitachse eintrage, stelle ich fest, dass die Abstände zwischen ihrem Verschwinden gar nicht so regelmä ßig sind. Die ersten beiden Mädchen sind innerhalb von zwei Monaten verschwunden, bis zum dritten vergingen dann achtzehn Monate, und das letzte Mädchen ist vor knapp einer Woche verschwunden. Das bedeutet weder, dass die Abstände zwischen den Morden kürzer, noch dass sie länger werden. Keine Ahnung, worauf das überhaupt hindeutet. Solche Menschen neigen dazu, in immer kürzeren Abständen zu morden. Oder in ihrem Leben gibt es etwas, das den Impuls zu töten immer wieder auslöst. Ich werfe einen Blick auf die Zeitachse und frage
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