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Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolai Gogol
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Tschitschikow nicht dieser Gedanke gekommen, so hätte diese Erzählung nicht das Licht der Welt erblickt.
    Nachdem er sich nach russischer Sitte bekreuzt hatte, schritt er zur Ausführung. Angeblich um sich einen Wohnort auszusuchen sowie auch unter anderen Vorwänden, machte er sich daran, diese und jene Gegenden unseres weiten Staates in Augenschein zu nehmen, und zwar namentlich solche, die mehr als andere von Unglücksfällen zu leiden gehabt hatten: von Mißernten, großer Sterblichkeit usw. usw., kurz, wo er hoffen konnte, die erforderlichen Leute am bequemsten und billigsten zu kaufen. Er wandte sich nicht aufs Geratewohl an jeden Gutsbesitzer, sondern wählte sich Menschen nach seinem Geschmacke aus, solche, bei denen der Abschluß derartiger Geschäfte voraussichtlich auf die geringsten Schwierigkeiten stoßen würde; er bemühte sich, sie vorher kennen zu lernen und ihre Zuneigung zu gewinnen, um die Bauern womöglich als freundschaftliches Geschenk zu erhalten und nicht für Geld kaufen zu müssen. Daher dürfen die Leser dem Verfasser nicht zürnen, wenn die bisher aufgetretenen Personen nicht nach ihrem Geschmack gewesen sind: das ist Tschitschikows Schuld; hier hat er allein zu bestimmen, und wohin es ihm gutdünkt zu gehen, dahin müssen wir ihm folgen. Wir unsererseits können, wenn man uns die Blässe und Unscheinbarkeit der Personen und Charaktere zum Vorwurf macht, nur sagen, daß man niemals im voraus vollständig beurteilen kann, welchen Verlauf eine Sache nehmen und welchen Umfang sie gewinnen wird. Die Einfahrt in eine jede Stadt, und sei es selbst in eine Residenzstadt, hat immer etwas Alltägliches, Gewöhnliches; zuerst ist alles grau und eintönig; endlos ziehen sich vom Rauch geschwärzte Fabrikgebäude dahin, und dann erst kommen sechsstöckige Häuser zum Vorschein und prächtige Läden, prunkende Schilder, riesige Straßenzüge voller Kirchen, Säulen, Denkmäler und Türme, mit allem Glanz und Lärm und Getöse der Großstadt und mit allem, was Menschenhand und Menschengeist Wunderbares geschaffen haben. Wie die ersten Einkäufe vor sich gingen, hat der Leser bereits gesehen; was für einen Gang die Sache weiter nehmen wird, welche Erfolge und Mißerfolge unserem Helden beschieden sein werden, wie er sich mit der Beseitigung und Überwindung noch schwierigerer Hindernisse wird abzumühen haben, wie dann großartige Gestalten vor unsere Augen hintreten werden, wie sich das geheime Hebelwerk unserer breit angelegten Erzählung in Bewegung setzen und der Horizont dieser Erzählung sich weiter ausdehnen und sie selbst einen majestätischen, lyrischen Ton annehmen wird, das wird der Leser später sehen. Einen gar weiten Weg hat die ganze Reisegesellschaft noch zurückzulegen, bestehend aus einem Herrn im mittleren Lebensalter, einer Britschke von der Art, wie Junggesellen sie zu benutzen pflegen, dem Bedienten Petruschka, dem Kutscher Selifan und den drei uns bereits mit Namen bekannten Pferden, von dem Assessor bis zu dem nichtswürdigen Schecken. Da haben wir also unseren Helden in ganzer Gestalt, wie er leibt und lebt! Aber vielleicht verlangt man von mir, daß ich seine Charakteristik noch durch eine bestimmte Äußerung über einen einzelnen Punkt zum Abschluß bringe: was für ein Mensch war er hinsichtlich seiner moralischen Eigenschaften? Daß er nicht ein Held ist, der alle möglichen Vollkommenheiten und Tugenden in sich vereinigt, liegt auf der Hand. Was ist er also für ein Mensch? Etwa ein Schurke? Warum soll er ein Schurke sein? Weshalb sollten wir mit anderen so streng ins Gericht gehen? Schurken gibt es jetzt bei uns in Rußland gar nicht mehr: es gibt nur wohlgesinnte, angenehme Leute; Übeltäter, die gleichsam selbst ihr Gesicht offen hinhalten, damit ihnen jeder eine Ohrfeige versetze, solche findet man höchstens zwei oder drei, und auch die reden jetzt schon von Tugend. Gerechter werden wir ihm werden, wenn wir ihn einen guten Wirt, einen erwerbstüchtigen Kopf nennen. Der Erwerb, der trägt die Schuld an allem. Um des Erwerbs willen werden all die Geschäfte ausgeführt, die die Welt als »nicht ganz sauber« bezeichnet. Allerdings liegt in einem solchen Charakter etwas Abstoßendes, und derselbe Leser, der auf seinem Lebenswege mit einem solchen Menschen freundschaftlich umgeht, ihn gastlich bewirtet und die Zeit angenehm mit ihm verbringt, sieht ihn scheel an, wenn derselbe ihm als Held eines Dramas oder einer Erzählung entgegentritt. Aber weise ist derjenige, der

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