Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolai Gogol
Vom Netzwerk:
keinen Charakter verachtet, sondern einen prüfenden Blick auf ihn richtet und ihn in den tiefsten Gründen seines Wesens zu verstehen sucht. Gar schnelle Wandlungen gehen in einem Menschenherzen vor; ehe man sich dessen versieht, ist da im Innern ein furchtbarer Wurm herangewachsen, der gewalttätig alle Lebenssäfte in sich aufsaugt. Und oft genug ist es vorgekommen, daß nicht etwa nur eine große Leidenschaft, nein, sogar eine unwürdige Begier nach irgend etwas Kleinem, Geringem in einem zu den schönsten Tagen geborenen Menschen heranwuchs und ihn all seine hohen, heiligen Pflichten vergessen und ihm das Geringe und Nichtige als etwas Großes und Heiliges erscheinen ließ. Zahllos wie Sand am Meere sind die Leidenschaften des Menschen, und keine ist der anderen ähnlich, und alle sind sie, die unwürdigen sowohl wie die schönen, anfangs dem Menschen untertänig und werden dann erst seine furchtbaren Tyrannen. Glückselig derjenige, der sich die schönste dieser Leidenschaften erwählt hat; seine maßlose Glückseligkeit wächst und vervielfältigt sich in jeder Stunde, in jeder Minute, und er schreitet immer tiefer in das unendliche Paradies seiner Seele hinein. Aber es gibt Leidenschaften, die der Mensch sich nicht selbst auswählt. Sie werden schon in seiner Geburtsstunde mit ihm zusammen geboren, und es ist ihm nicht die Kraft verliehen, sich von ihnen freizumachen. Sie werden von einer höheren Einsicht gelenkt, und es liegt in ihnen etwas, was uns lebenslänglich ruft und nie verstummt. Es ist ihnen beschieden, eine große irdische Laufbahn zu vollenden, ganz gleich, ob sie in finsterer Gestalt vorüberwandeln oder als leuchtende Erscheinungen, über die sich die Welt freut – sie sind in gleicher Weise dazu berufen, einen dem Menschen unbekannten Segen zu bringen. Und vielleicht rührt auch bei diesem Tschitschikow die Leidenschaft, die ihn beherrscht, nicht von ihm selbst her, und es liegt in seinem kalt-egoistischen Wesen etwas, was später einmal den Menschen zwingen wird, vor der Weisheit des Himmels auf die Knie in den Staub zu sinken. Und es ist noch ein Geheimnis, warum uns diese Gestalt in der vorliegenden, jetzt in die Welt hinausgehenden Erzählung vor Augen tritt.
    Peinlich aber ist dem Verfasser nicht sowohl dies, daß die Leser mit dem Helden unzufrieden sein werden, sondern etwas anderes: daß sie nach seiner innersten, festesten Überzeugung mit diesem selben Helden, mit diesem gelben Tschitschikow zufrieden sein könnten . Hätte der Verfasser ihm nicht so tief in die Seele hineingeleuchtet, hätte er nicht am Boden seiner Seele all das aufgerührt, was vor dem Lichte zurückschrickt und sich verbirgt, hätte er nicht seine geheimsten Gedanken enthüllt, die der Mensch keinem anderen anvertraut, sondern hätte er ihn in der Gestalt gezeigt, in der er der ganzen Stadt und Herrn Manilow und anderen Leuten erschien, so würden alle Leute ganz vergnügt sein und ihn für einen interessanten Menschen halten. Es hätte ja nichts geschadet, wenn seine Persönlichkeit und sein ganzes Wesen uns nicht mit solcher Lebendigkeit vor Augen getreten wären; dafür hätte auch die Seele nach Beendigung der Lektüre sich über nichts beunruhigt und hätte sich wieder dem Kartentische, diesem gemeinsamen Tröster von ganz Rußland, zuwenden können. Ja, meine lieben Leser, Sie möchten eben nicht die nackte menschliche Armseligkeit sehen. »Wozu?« sagen Sie, »warum sollen wir das sehen? Als ob wir nicht von selbst wüßten, daß es viel Verächtliches und Dummes im Leben gibt. Auch ohne dies kommen wir oft genug in die Lage, etwas sehen zu müssen, was keineswegs tröstlich ist. Der Schriftsteller zeige uns lieber das Schöne und Anziehende! Das andere wollen wir lieber vergessen!« – »Warum sagst du mir das, mein Lieber, daß die Wirtschaft schlecht geht?« sagt ein Gutsbesitzer zu seinem Verwalter. »Ich weiß das auch ohne dich, mein Lieber; kannst du denn nicht von etwas anderem reden, wie? Laß mich doch gar nicht daran denken, es gar nicht wissen; dann bin ich glücklich.« Und nun verausgabt er das Geld, das dazu hätte dienen können, die Sache wenigstens einigermaßen zu bessern, für allerlei Mittel, durch die er es erreichen möchte, daß er das Unheil vergißt. Der Verstand schläft, der vielleicht plötzlich eine Quelle großer Reichtümer entdeckt hätte, und das Gut kommt unter den Hammer, und der Gutsbesitzer geht, um alles zu vergessen, betteln, und seine Seele wird aus Not willig

Weitere Kostenlose Bücher